Wenn Flammen sprechen

Jan L. hat sich mit Benzin übergossen und in Flammen gesetzt. Zwischen Donut-Laden und Hot-Dog-King, direkt vor dem Springbrunnen. Weshalb der Bundeswehrsoldat, der so verschlossen und verändert aus Afghanistan zurückgekehrt ist, ausgerechnet eine Shoppingmall für seinen schockwirksamen Suizid gewählt hat – das weiß niemand. Immerhin war er rücksichtsvoll genug, sich nicht in der Nähe des LaLa-Lands anzuzünden, dem Kinderbetreuungsangebot des Paunsdorf Centers, wo die Eltern ihre Kleinen parken.

Unter 212 Einreichungen ausgewählt

Videobloggerin Petra – eine Verehrerin der Einkaufswelten – hat sich vorgenommen, die Umstände zu erhellen, die zu Jan L.s Tod geführt haben. Sie holt seinen Bruder Chris vor die Kamera, die Mutter, die Freundin – und schließlich auch Menschen aus Afghanistan. Wie Salir, der sagt: „Ich habe Dinge gesehen, die Sie nicht gesehen haben. Ich weiß nicht mehr. Ich weiß nicht weniger. Ich bin nur da“.

„When There’s Nothing Left To Burn, You Have To Set Yourself On Fire“ heißt das Stück, in dem der Autor Chris Michalski von Krieg, Konsum und tödlichen Verdrängungsmechanismen erzählt. Als einer von drei Gewinnertexten wird Michalskis nun bei den Autor:innentheatertagen gezeigt, die das Deutsche Theater in Kooperation mit dem Schauspiel Leipzig und dem Schauspielhaus Graz veranstaltet.

Eine Jury aus Lukas Bärfuss, Fritzi Haberlandt und Schorsch Kamerun hat „When There’s Nothing Left To Burn, You Have To Set Yourself On Fire“ unter 212 Einreichungen ausgewählt.

Die Uraufführung in der Regie von Tom Kühnel fand zwar schon im Juni im Innenhof des Deutschen Theaters statt, doch seitdem hat das Stück ja nur an tragischer Aktualität gewonnen. Der Autor, Jahrgang 1976, legt mit seiner bloggenden Protagonistin eine Sprachlosigkeit offen, die vor der Gleichzeitigkeit von unermesslichen Gräueln und Popcornalltag kapituliert.

[Bis 5.9. im Deutschen Theater. Lange Nacht der Autor:innen: 4.9., ab 17 Uhr]

Ebenfalls Gewinnerin des Stückewettbewerbs ist die 1994 geborene Berliner Autorin Sarah Kilter, deren Text „White Passing“ eine „Sie“ benannte Heldin auf eine Reise zwischen kollidierende Welten schickt: Charlottenburg und Wedding. Hier gediegene West-Berliner Gemütlichkeit, dort harte Jugendjahre inklusive Bushido-Verehrung.

„White Passing“ spielt dabei ebenso offensiv mit der Verwechslungsgefahr zwischen Protagonistin und Autorin wie mit den Theater-Erwartungen an sozialkritische Texte – und nicht zuletzt auch mit der deutschtypischen Zuschreibungsfreude in Herkunftsfragen („aber wieso habe ich all die jahre nicht gemerkt dass sarah kilter einen migrationshintergrund hat“).

Dazwischengeschoben sind Kapitel mit der Überschrift „Deutschland in Spiegelstrichen“, in denen Kilter sehr präzise Alltagsbeobachtungen reiht: „In Deutschland lassen viele Deutsche einen Hitlergruß in der Berliner U-Bahn unkommentiert stehen. ‚War halt ein Idiot, noch dazu besoffen, was sollen wir machen, vielleicht wird er aggressiv, wenn ich was sage. Außerdem habe ich gerade die kleine Nele dabei’“.

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„White Passing“ wird von Thirza Bruncken in Kooperation mit dem Schauspiel Leipzig in der „Langen Nacht der Autor:innen“ uraufgeführt. Ebenso der dritte Siegertext „Ich, Wunderwerk und How Much I Love Disturbing Content“ von Amanda Lasker-Berlin, ebenfalls Jahrgang 1994.

Das vom Schauspielhaus Graz in der Regie von Claudia Bossard uraufgeführte Stück schneidet Bewegtbildbetrachtungen gegeneinander und fragt nach den Wahrheiten, die jenseits der herangezoomten Ausschnitte liegen.

Das Gladbecker Geiseldrama steht neben dem Video der Ermordung George Floyds sowie Aufnahmen einer privaten Weihnachtsfeier, wo niemand sehen will, was Opa mit der Enkelin auf dem Schoß anstellt. Ins Rechteck gepresste Verstörung ohne Triggerwarnung, die im Ruf nach einem Bildersturm mündet.

Der Stückewettbewerb ist das Herzstück der diesjährigen Autor:innentheatertage, die anders als sonst keine Gastspiele zeigen. Es sind drei Texte mit starken Reibungsflächen, die auf Distanz zu Welt und Selbst gehen, um den Overkill der Realität aushalten zu können. Das Hinhören lohnt sich, schon, weil sie alle nicht vorgeben, im Besitz irgendeiner Wahrheit zu sein: „Ich weiß nicht mehr. Ich weiß nicht weniger. Ich bin nur da“.