Kuss bringt Glück
Irgendwann ist Edina Müller einfach davongezogen. Kurz nach der Hälfte des Rennens, ungefähr bei Meter 150, ließ die Kanutin ihre Konkurrentinnen einfach hinter sich. Die Ukrainerin Maryna Mazhula, mit der sie sich bis dahin ein Kayakspitze-an-Kayakspitze-Rennen lieferte, fiel immer weiter zurück. Den Oberkörper weit nach vorne gestreckt, nach hinten weg paddelnd, auf Müllers ganz eigene Art, sprintet sie zu Gold. Später wird sie der ARD sagen, dass sie sich nach dem Zieleinlauf noch gar nicht so richtig freuen konnte. Sie brauchte Gewissheit, die Sicherheit der Anzeigetafel. Denn man hatte sie vor nicht allzu langer Zeit schon abgeschrieben.
In 53,958 Sekunden sprintete Edina Müller in ihrem Kayak auf den ersten Platz (Startklasse KL1). Für die 38-Jährige ist es bei den Paralympics die erste Goldmedaille im Kanusport, die zweite in ihrer sportlichen Karriere, nachdem sie 2012 in London mit dem Team der deutschen Rollstuhlbasketballerinnen das Turnier gewann. Und es ist ja nicht nur das Edelmetall: Müller, die am vergangenen Donnerstag bereits eine neue paralympische Bestzeit aufgestellt hatte, legte an diesem Samstag nochmal einen drauf. Eine neue Bestzeit aufzustellen, das sei auch das Ziel, hatte Müller dem Tagesspiegel vor dem Rennen gesagt.
Die Spiele in Tokio sind Müllers vierte Paralympics. Und doch ist es dieses Mal anders. Denn Müllers zweieinhalbjähriger Sohn Liam ist vor Ort. Er verfolgte den Zieleinlauf auf den Schultern seines Papa. Vor dem Rennen hat Liam Edina noch einen Glückskuss mitgegeben. „Da war alles andere vergessen“, sagt Müller. Und es scheint gewirkt zu haben. Als das Rennen vorbei war und Müllers Trainer zu ihr ins Wasser sprang, war Liam mit am Steg und schaute zu, wie Mutter und Trainer aus dem Wasser stiegen. Das klingt alles sehr bewegend und ist es auch. Nur leicht ist das Leben nicht unbedingt, als Sportlerin und Mutter.
Müller fühlte sich Dschungel der Bürokratie allein gelassen
Bis Liam und Müllers Partner, der vor Ort auf den Sohn aufpasst, die Erlaubnis bekamen, mit nach Tokio zu kommen, vergingen Wochen, wenn nicht Monate. Es war eine Zeit, in der sich Müller ein wenig im Dschungel der Bürokratie verloren und alleingelassen fühlte. Und selbst jetzt, wo Liam und Müllers Partner in Japan sind, ist es kompliziert. Sie wohnen in einem Hotel, abseits der Wettkampfstätten. Denn Liam darf nicht ins Dorf der Athletinnen und Athleten. Trotzdem: „Wir haben uns irgendwie organisiert und das so hinbekommen, dass ich hier 100 Prozent geben konnte“, sagte Müller der ARD nach dem Rennen.
Vor Beginn der Paralympics, aber auch schon in den vergangenen Jahren, haben einige an Müllers Fähigkeiten gezweifelt. Wird die ehemalige Rollstuhlbasketballerin auch im Kanu, das anfangs mal ein Freizeitsport für sie war, um den ersten Platz kämpfen? Schafft es die Mutter auch nach der Geburt ihres Sohnes vor zweieinhalb Jahren noch einmal zu Gold? Nach Samstag ist die Antwort klar.
Wie der ehemaligen Rollstuhlbasketballerin Annika Zeyen, die 2012 zusammen mit Müller Gold holte und in Tokio im Radfahren Gold und Silber gewann, gelang auch Müller der Wechsel der Disziplin. Und viel bedeutender: Mutterschaft und Sportlerin sein schließen sich nicht aus, im Gegenteil. Müller ist wie beflügelt. Für sie hat es einen sehr hohen Stellenwert in Tokio zu zeigen, „dass man auch hier als Mutter diese Leistung bringen kann“, sagt sie.
Nach dem Rennen, als Müller Fragen der ARD beantwortet, bekommt sie die Gelegenheit, sich bei den Menschen zu bedanken, die ihr geholfen. Wer das ist? Ihr Dank gilt „dem Team, den Trainern, Förderern und Sponsoren, auch wenn einige nach der Geburt von Liam nicht ans uns geglaubt haben“, sagt Müller. Sie weint.
Nach Müller traten am Samstag noch die deutschen Kanutinnen Anja Adler und Felicia Laberer an. Laberer, erst 20 Jahre alt, wurde bei ihren allerersten Paralympics Dritte. Ein unglaublicher Erfolg. Anja Adler kam nach einem sehr guten Halbfinale auf den vierten Platz im Finale. Auch für sie waren es die ersten Paralympischen Spiele, auch für sie ist das ein großer Erfolg. Der bereits am Mittwoch angekündigten Medaillenparty der Kanutinnen steht dann wohl nichts mehr entgegen.
Dieser Text ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier. Alle aktuellen Entscheidungen und Entwicklungen lesen Sie in unserem Paralympics Blog.