Jane Campion fordert Hollywood mit Netflix heraus

Vielleicht ist Jane Campion ihrem Regie- Kollegen Spike Lee sogar ein bisschen dankbar. Überhaupt könnte das Timing der neuseeländischen Regisseurin für ihren ersten Spielfilm seit „Bright Star“ vor zwölf Jahren kaum besser sein. Vergangenes Jahr gewann Chloé Zhao mit dem Roadmovie „Nomadland“ am Lido als erste Frau den Goldenen Löwen (und kurz darauf auch den Oscar), vor gerade mal sechs Wochen löste die Französin Julia Ducournau mit dem spektakulären Gender-Bending-Horror „Titane“ Campion – dank einer klugen Jury-Entscheidung unter Lees Vorsitz – als immer noch amtierende Goldene-Palmen-Gewinnerin nach 32 Jahren ab.

Ein paar Standardfragen kann die Presse also bei ihrem sehnsüchtig erwarteten Auftritt am Lido überspringen, niemand dürfte darüber glücklicher sein als Campion selbst. Mit ausgebreiteten Armen badete sie am Mittwoch bei der Ankunft auf dem roten Teppich im Blitzlichtgewitter. Und ihr Film „The Power of the Dog“, eines von zwei „Netflix Originals“, die der Streamingproduzent nach Venedig geschickt hat, verdient jede Sekunde der Standing Ovations.

Das Westerndrama, angesiedelt im Montana der zwanziger Jahre, gefilmt in Neuseeland, gehört zu der Sorte Kino, wie sie sich die großen Filmstudios heute kaum noch leisten: Gleichzeitig weitläufig und intim, mit einer sagenhaften Geduld für die komplizierten Gefühle ihrer Charaktere und reich an Zwischentönen. Netflix habe ihr zugesichert, erzählt Campion auf der Pressekonferenz, dass der Film in die Kinos kommen würde. Bisher – bei „Roma“, „The Irishman“, „Mank“ – waren solche Versprechen eher Alibi-Zugeständnisse. Aber ein Film wie „The Power of the Dog“ wird durch alle Streaming-Algorithmen fallen, weil es auf der Plattform nur wenig Vergleichbares gibt.

Harte Cowboy, weicher Kern

Benedict Cumberbatch und Jesse Plemons spielen zwei ungleiche Brüder, die in der Einöde von Montana eine Ranch betreiben. Phil (Cumberbatch) ist ein Cowboy alter Schule, grob und leicht sadistisch veranlagt, George dagegen vergleichsweise domestiziert: nicht der hellste, aber mit einem guten Herz. Das erkennt auch die Witwe Rose (Kirsten Dunst). Die beiden heiraten, sie zieht mit ihrem erwachsenen Sohn Peter (Kodi Smit-McPhee) in das Farmhaus. Sehr zum Missfallen Phils, der in Rose Konkurrenz sieht. Doch langsam wird klarer, dass eigentlich die Anwesenheit des sanften Peters den Macho-Cowboy nervös macht.

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„The Power of the Dog“ basiert auf dem gleichnamigen, vergessenen Klassiker des Western-Autors Thomas Savage; das Buch wurde vor fünf Jahren wiederaufgelegt, diesmal mit einem Vorwort der „Brokeback Mountain“-Autorin Annie Proulx. Campions Film ist ein bemerkenswerter Beitrag zum Western-Sujet des „schwulen Cowboys“: sinnlicher in den codifizierten Westernmotiven (Phil zeigt Peter, der Papierblumen bastelt, wie man ein Rodeolasso flicht), auch nachsichtiger im Umgang mit unterdrückter Homosexualität als Ang Lee in seinem Film.

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Und zudem hat sie eine Frauenfigur, Kirsten Dunsts Rose, der in diesem Männerdrama die besonders stillen Momente gehören: Sie hat ihrem Sohn früh gelehrt, dass die Männer der Welt nichts Gutes bringen werden. „Die Mädchen machen sich gut“, sagt Campion am Donnerstag stolz über ihre jüngeren Kolleginnen. Am Abend präsentiert Maggie Gyllenhaal mit der Elena-Ferrante-Verfilmung „The Lost Daughter“ ihr Regiedebüt.

Campion hat noch eine andere Botschaft an Hollywood: Sie habe für einen Film so noch nie ein großes Budget zur Verfügung gehabt. In Venedig spricht sie da zu den Bekehrten, das Netflix-Logo auf der Leinwand entlockt dem Publikum in Venedig sogar leichten Beifall. Es mag für Jane Campion eine kleine Genugtuung sein zu sehen, wie andere Frauen die Früchte ernten, die sie gesät hat.