Sehnsuchtswurzeln in den Herzen
Mit schrammelig-rockigen Akkorden, die von einer melodischen E-Saz aufgebrochen werden, beginnt das Album „Warte mein Land, warte“ (Fun in the Church). Und spätestens wenn Ozan Ata Canani zu singen beginnt, ist klar, dass diese Musik in keine musikalische Schublade passt: „Alle Menschen dieser Erde/ Alle Menschen groß und klein/ Alle Menschen dieser Erde/ Alle wollen glücklich sein.“ Geschrieben hat er „Alle Menschen dieser Erde“ als Teenager – in den 70er Jahren. Jetzt werden seine Stücke zum ersten Mal auf einem Album veröffentlicht.
Die Musik von Ata Canani, der 1963 in der anatolischen Provinz Kahramanmaras, etwa hundert Kilometer nördlich der syrischen Grenze geboren wurde, klingt wie eine Mischung aus Krautrock, Pop und traditioneller anatolischer Musik. Sie ist damit nah dran am Anadolu Rock, dem von westlicher Musik geprägten Stil, der ab den 60er Jahren in der Türkei populär wurde.
Doch der Mix von Cananis Stücken ist absolut einzigartig, denn er kombiniert den Anadolu Rock mit deutschen Texten. Seine Themen sind Liebe, Sehnsucht, Wut – und Protestlieder über die Situation der Gastarbeiter.
Das Titelstück schrieb Ata Canani für die erste Generation der Gastarbeiter, die ab 1955 über Anwerbeabkommen aus ganz Europa nach Deutschland kamen, um in der boomenden Industrie zu arbeiten. Auf Italiener, Spanier und Griechen folgten zwischen 1961 und 1973 etwa 870 000 Türken dem Ruf . Die Lyrics lesen sich wie ein Heimweh-Gedicht. In getragenem Tempo wird jede Strophe wiederholt, die Worte scheinen mit der abfallenden Melodie hinabzusinken. „Warte mein Land, warte/ Bis ich wieder komm/ Denn auch in der Fremde/ Bleib ich dein Sohn/ Abends wenn ich schlafe/ Seh ich Dich im Traum/ Denn die Sehnsucht schlug im Herzen Wurzeln wie ein Baum.“
Cananis Vater, der eigentlich Bauer war, kam 1971 nach Deutschland und arbeitete als Schweißer. Nach dem Aufnahmestopp entschied er sich zu bleiben, und holte seine Familie zu sich. Die Situation in der Türkei war unsicher, die 60er und 70er waren geprägt von Arbeitslosigkeit, Militärputschen und Terrorakten.
„Viele wollten nicht, dass ihre Kinder in dieser Zeit in der Türkei lebten“, erzählt Canani im Videogespräch. Sein Vater habe jedoch immer davon gesprochen, zurückzukehren – bis Canani ihm eines Tages klarmachte, dass ihr Leben nun hier in Deutschland stattfinde. Die Hoffnung vieler einstiger Gastarbeiter, eines Tages in die Heimat zurückzukehren, erfülle sich nicht, sagt Canani. „Oft kommen sie erst im Sarg zurück.“ Auch seinem Vater sei es so ergangen. Er starb 2016 in Witten.
Eine Laute als Willkommensgeschenk
Als Canani nach Deutschland kam, war er elf. Mittlerweile hat er die deutsche Staatsbürgerschaft und lebt in Leverkusen. Begeistert, seine Heimat zu verlassen, war er damals nicht. Sein Vater wollte ihm den Schritt erleichtern und ihm etwas schenken. Er wünschte sich eine Bağlama. Die dickbauchige Laute mit dem schmalen Hals und dem unverwechselbaren Klang ist das wohl wichtigste traditionelle Instrument in der türkischen Musik. In dem Film „Saz – Von Berlin nach Khorassan: Das Geheimnis der Saz“ von 2018 heißt es: „Die Stimme dieses Landes findet sich in den Protestliedern. Es gibt alles: Liebe, Leben, die Verbundenheit mit der Natur. Aber über allem: Widerstand.“ In den 70er Jahren hätten Saz-Konzerte öfter im Gefängnis geendet, erzählt die Sprecherin. Eltern wollten nicht, dass ihre Kinder das Instrument lernten – damit sie keine Schwierigkeiten bekämen.
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Obwohl man Canani zweifellos einen musikalischen Pionier nennen kann, finden sich weitere traditionelle Bezüge zur Protestmusik. So habe sein musikalisches Vorbild, der Musiker Aşık Mahzuni Şerif, einmal zu ihm gesagt, dass ein Ozan – Türkisch für „Sänger“, „Dichter“ – immer auch die Aufgabe habe, aktuelle Probleme des Volkes zu benennen. Ata Canani, der das Wort vor seinen Namen gestellt hat, nahm sich das zu Herzen. Seine Texte singt er zum Teil auf Deutsch, doch bewegt er sich musikalisch auf den Spuren türkischer Traditionen – und schafft damit feine Verbindungen zwischen den beiden Ländern.
Mit 14 spielte Canani auf türkischen Familienfeiern, auch eigene Lieder. Nachdem ein deutsches Ehepaar ihn bei einer Feier gefragt hatte, warum er seine Lieder nicht auf Deutsch singe, nahm er die Anregung auf. Etwas später las er auf einem Titel der IG-Metall-Hefte das berühmte Zitat von Max Frisch: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.“ Darauf basierend schrieb er mit 15 sein heute bekanntestes Stück, „Deutsche Freunde“. Es war eines der ersten Lieder überhaupt, das von einem Gastarbeitersohn auf Deutsch gesungen wurden.
TV-Auftritte bei Biolek
Für kurze Zeit flammte daraufhin das Interesse der Medien auf, es gab Fernsehauftritte bei Alfred Biolek und im ZDF mit der Band Die Kanaken. Doch die Aufmerksamkeit erlosch bald, zu speziell war der Stil. In den 70er Jahren konnten die türkischen Zuhörer, die kaum Deutsch sprachen, die Texte nicht verstehen – während die deutschen kaum Interesse an der Kritik hinter den anatolischen Klängen hatten.
Als Berufsmusiker konnte Canani sich nie etablieren. Er hat Radio- und Fernsehmechaniker gelernt und dann lange bei einer Elektrofirma gearbeitet. Wegen einer Herzschwäche ist er inzwischen in Frührente. Seit einiger Zeit gibt es wieder mehr Aufmerksamkeit für seine Musik. So eröffnete sein Stück „Deutsche Freunde“ den Sampler „Songs of Gastarbeiter“, der 2013 bei Trikont erschien. Und „Warte mein Land, warte“ spielte er mit der Münchner Kraut-Jazz-Band Karaba ein, mit der auch eine Tour geplant ist.
Ata Canani lädt mit seiner Musik dazu ein, ein Verständnis füreinander zu suchen – jenseits von Grenzen, Gesetzen und wirtschaftlichen Interessen. Noch heute, 60 Jahre nach dem Deutsch-Türkischen Anwerbeabkommen, berühren die unverstellten Sätze des damaligen Teenagers: „Und die Kinder dieser Menschen/ Sind geteilt in zwei Welten/Ich bin Ata und frage Euch/ Wo wir jetzt hingehören.“
Canani sieht den strukturellen Rechtsextremismus als Problem. Er selbst machte damit Erfahrungen, als er ein an die Hauswand gesprühtes Hakenkreuz bei der Polizei meldete. Deshalb hält er seine Texte von damals noch immer für aktuell.
„In den 60ern und 70ern“, sagt Canani, „hießen wir Gastarbeiter, in den 80ern und 90ern sagte man Ausländer, heute sagt man Migranten. Eigentlich sagt man es ja jetzt schon wieder anders: Menschen mit Migrationshintergrund.“ Die Wirkung dieser Bezeichnungen sei die gleiche gewesen: Ausgrenzung. Doch Canani findet auch, dass die jüngeren Generationen immer integrierter sind. Auf die Frage, was er sich für die türkisch-deutsche Zukunft wünscht, hat er eine klare Antwort: „Alle Menschen sollen glücklich sein.“