Der Mann, der den Startschuss für das Museum des 20. Jahrhunderts gab
Das Kernstück der wiedereröffneten Neuen Nationalgalerie bilden im Untergeschoss die Surrealisten. Daran besteht kein Zweifel. Max Ernst, Joan Miró, René Magritte und Salvador Dalí werden im Gartensaal geradezu gefeiert, dem größten des Mies van der Rohe-Baus. Heiner Pietzsch war das zunächst gar nicht recht, kam ihm ein solcher Auftritt für die von ihm und seiner Ehefrau Ulla zusammengetragenen Werke zu prominent vor.
Doch Nationalgaleriedirektor Joachim Jäger bestand darauf und wollte ihm wohl auch eine Freude machen – wissend, dass der hoch betagte Sammler die Präsentation seiner Sammlung im neuen Museum des 20. Jahrhunderts, das erst in etlichen Jahren vollendet sein wird, vermutlich nicht mehr erleben würde.
Wie recht er behalten sollte, konnte Jäger nicht ahnen. Keine drei Wochen nach Wiedereröffnung der Neuen Nationalgalerie ist Heiner Pietzsch am Dienstag mit 91 Jahren in Berlin gestorben. Die grandiose Hängung seiner Bilder in der hingebungsvoll sanierten Architekturikone des 20. Jahrhunderts hat er noch besucht.
Seine Bilder strahlen in der wiedereröffneten Neuen Nationalgalerie
Die Aufnahme, die dabei von ihm und seiner Frau vor einem Gemälde von André Masson entstand, zeigt ihn zufrieden. Als hätte er es geschafft. Und auch verschmitzt, wie es seine Art war.
Mit Heiner Pietzsch verliert die Stadt nicht nur einen Sammler, der auf hohem Niveau Kunst erwarb, sondern auch einen kulturpolitischen Strategen, der zu den Mitbegründern des Vereins der Freude der Neuen Nationalgalerie gehörte.
Ihm verdankt Berlin in gewisser Hinsicht das Museum des 20. Jahrhunderts, denn ohne die Schenkung der Sammlung Ulla und Heiner Pietzsch ans Land hätte es keinen Baubeginn für den Entwurf von Herzog & de Meuron gegeben. Pietzsch hatte die 150 Werke umfassende Gabe an eine Bedingung geknüpft: Die Bilder sollten zu sehen sein.
Pietzsch setzte den Hebel an: Ohne Museum keine Sammlung
Dass dies im Mies van der Rohe-Bau nicht möglich sein würde, der kaum genügend Platz für die Moderne bot, war allen klar. Pietzsch hatte den Hebel an der richtigen Stelle angesetzt, denn gerade beim Surrealismus, den er so qualitätsvoll gesammelt hatte, klaffte eine Lücke im Bestand.
Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz durfte sich die Schenkung deshalb keinesfalls entgehen lassen. Auch nicht die sagenhafte Sammlung mit Papierarbeiten der Abstrakten Expressionisten. Sie macht augenfällig, wie sich Pollock & Co. von den in die USA emigrierten Künstlern inspirieren ließen.
In der Sammlung Pietzsch findet sich mit einem Gemälde von Max Ernst, das nun als Highlight in der Neuen Nationalgalerie hängt, zugleich der deutlichste Brückenschlag. Als es erstmals 1942 in der New Yorker Buchhandlung Wakefield ausgestellt war, interessierte sich ein junger amerikanischer Maler ganz besonders dafür: Jackson Pollock. Ernst erklärte ihm daraufhin, wie er die Lineatur mit Hilfe einer am Band schwingenden Dose hinbekommen hatte, aus der durch ein Loch Farbe auf die liegende Leinwand tropfte.
Von Max Ernst lernte Pollock die Technik für seine drip paintings
Ein Jahr später begann Pollock mit dem Pinsel Farbe direkt auf die Leinwand zu spritzen und schuf fortan seine berühmten drip paintings. Ernst fügte daraufhin seinem Bild Augen hinzu, in denen man ein Porträt Pollocks erkennen könnte. Auch seine Umbenennung in „Junger Mann, beunruhigt durch den Flug einer nicht-euklidischen Fliege“ deutet darauf hin.
Der Surrealismus war schon früh ein Leitstern für Pietzsch, auch wenn der spätere Sammler das bei der Erwerbung seines ersten Bildes in der Galerie Springer, einer Papierarbeit von Gerhard Altenbourg, nicht ahnen konnte. Die verschlungenen Pfade, das sich auf der Bildebene formierende Unbewusste – all das kam auch bei dem im Westen noch wenig bekannten Maler vor. Pietzsch, der Anfang der 1950er Jahre als Elektrolehrling von Dresden nach Berlin gekommen war, interessierte sich intuitiv für dessen Kunst
Das sollte so bleiben. Auch nachdem der Selfmademan sein Vermögen im Kunststoffhandel mit Folien für Margarine, Verschlüssen von Nescafé gemacht, international Dependancen gegründet hatte und im großen Stil Kunst erwerben konnte, kaufte er immer aus dem Bauch heraus. Und doch nicht ganz. Zur Sammlung gehören auch Magazine und Schriften der Surrealisten, die heute ebenso hoch geschätzt sind. Pietzsch las sich ein, war mit seiner umfassenden Kenntnis ein gefragter Gesprächspartner.
Kein Bild wurde ohne die Abstimmung mit Ehefrau Ulla gekauft
Trotzdem gehörten zur Sammlung immer zwei, die entschieden. Kein Bild wurde ohne die Abstimmung mit Ehefrau Ulla gekauft. Beiden galt die Kunst als Ersatz für die Kinder, die sie selbst nicht haben konnten. Das betonten sie immer wieder bei den vielen Interviews die sie 2009 gaben, als ihre Sammlung das gesamte Untergeschoss der Neuen Nationalgalerie bespielen durfte. Damals sorgte die Ausstellung für Furore, denn die wenigsten wussten in der Stadt, welche fabelhaften Werke das Ehepaar besaß. Ansonsten zeigten sie ihre Kunst, der sie im Grunewald ein Haus mit besonders vielen Wänden gebaut hatten, nur bei sich privat.
Wer das Vergnügen hatte, sie besuchen zu dürfen, konnte sich bei ihnen in einem erstklassigen Museum wägen, das jedoch alles andere als stylisch war. Das Sammlerpaar wollte es weiterhin gemütlich haben. Bei ihnen gab es Klassiker der Moderne kombiniert mit flauschigen Fauteuils. Weil sie sich nur ungerne von ihren Mitbewohnern an der Wand trennen wollten, sieht der mit dem Land vereinbarte Schenkungsvertrag einen Vollzug erst vor, wenn beide verstorben sind.
Dass es so lange bis zum Baubeginn dauerte, ärgerte ihn
Zur Unterschrift kam es damals recht schnell nach der Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie. Die Unterzeichnung nur ein Jahr später im Roten Rathaus war ein feierlicher Akt, über den sich Pietzsch nachträglich geärgert hat – viel zu lange dauerte ihm nach dem pompösen Auftakt der Prozess, bis Ende 2019 endlich der erste Spatenstich für das ersehnte Museum des 20. Jahrhunderts folgte, um das ihm eigentlich ging.
Dem Dresdner Albertinum, das die Sammlung auch gewollt und sogar ebenfalls ausgestellt hatte, war da die Absage längst erteilt. Dafür zogen andere Kollektionen – von Erika Hoffmann und das Archiv der Avantgarden von Egidio Marzona – dorthin ab. Berlin bleibt die Schenkung Pietzsch gewiss und damit die Erinnerung an einen großartigen Sammler.