Schlummerndes Böse
Eine fünfzigjährige Protagonistin als begehrende, begehrenswerte Frau – das ist in der Literatur bislang eher eine Seltenheit, leider. Umso erfrischender ist daher Elle Bishop, die Ich-Erzählerin in Miranda Cowley Hellers spätem Romandebüt. Schon in der Eröffnungsszene schwimmt Elle nackt in einem See vor dem familiären Sommerdomizil auf Cape Cod, noch ganz erfüllt vom endlich vollzogenen Sex mit ihrer Jugendliebe Jonas.
[Der tägliche Nachrichtenüberblick aus der Hauptstadt: Schon rund 57.000 Leser:innen informieren sich zweimal täglich mit unseren kompakten überregionalen Newslettern. Melden Sie sich jetzt kostenlos hier an.]
Nur eines vermag den erfüllten Moment zu stören, ihre alte Angst vor den Schnappschildkröten im See, jetzt ein Ausdruck ihres schlechten Gewissens. Immerhin ist Elle verheiratet, sogar ausgesprochen glücklich, dazu noch Mutter dreier Kinder. Bezeichnend für Hellers Heldin ist, dass sie mit Jonas ausgerechnet hier auf Cape Cod endlich zusammenkommt. Denn in den Wäldern mit all den Toteis-Seen und an den Stränden der Halbinsel im Osten Neuenglands haben die Ich-Erzählerin und Jonas sich als Kinder einst kennengelernt. Das Sommerdomizil selbst, ein aus unglücklicher Liebe errichtetes Vermächtnis ihres Großvaters, ist im Roman ein hinreißendes Symbol für die Fragilität jeglichen Glücks.
Schließlich wurde das Ferienhaus einst zur Jahrhundertmitte, aus Kostengründen, mit gepressten Pappplatten ausgekleidet, zur Freude der Mäuse; daher sein Spitzname „Papierpalast“, der Hellers Roman den Titel gibt. Dennoch hat das Haus mit all seinen Erinnerungen überdauert, gegen alle Wahrscheinlichkeit. „Es droht zu verfallen und bleibt doch stehen, steht noch, Jahr um Jahr, wann immer wir zu ihm zurückkehren. Dieses Haus, dieser Ort, all meine Geheimnisse sind hier. Ich bin in seinem Gebälk“, lässt Heller ihre Ich-Erzählerin räsonieren.
Warum der Seitensprung?
Doch warum kam es erst jetzt zu diesem offenbar seit Jahrzehnten herbeigesehnten Seitensprung mit ihrem „besten Freund“ Jonas? Und wie wird es von hier aus für die Ich-Erzählerin weitergehen? Diese Fragen treiben Hellers Roman an. Es ist ein Werk über Lügen und Geheimnisse, Schuld und Missbrauch, die destruktive Kraft des Schweigens und das lebenslange Hoffen auf Erlösung. Auf der einen Ebene erzählt der Roman mit genauen Zeitangaben von den folgenden 24 Stunden im Leben einer Frau, die sich vor eine existenzielle Entscheidung gestellt sieht. Auf einer zweiten Ebene rekonstruiert Elle in präzise verorteten Erinnerungen („1970. Oktober, New York“; „1983. August, Memphis, Tennessee“) schlaglichtartig und aus apologetischen Motiven ihren Lebensweg. Und damit zugleich die Geschichte ihrer zerbrochenen, unglücklichen Familie, in der „Scheidung“, wie es an einer Stelle heißt, einfach nur ein Wort war und in der sich Elle und ihre Schwester immer wieder mit den neuen Partnern ihrer Eltern auseinandersetzen mussten – und mitunter auch deren Kindern.
Vor allem Elles Stiefbruder Conrad wird eine unheilvolle Rolle in ihrem Leben spielen, und zwar weit über seinen tragischen frühen Tod hinaus. Auch ihre Ehe mit dem als Mr. Perfect gezeichneten Peter wird von Elles Geheimnis belastet: „Ich weiß seit Langem, dass in mir eine Schlechtigkeit schlummert, eine geheime Perversion, etwas Verdorbenes, das ich vor ihm zu verbergen versuche. Das er hoffentlich niemals sehen muss.“
Gesellschaftliche Veränderungen gekonnt erzählt
Zu den Stärken dieses atmosphärisch dichten Romans, der in den USA und auch hierzulande ein Bestsellererfolg wurde, gehört es, wie gekonnt er nebenbei von gesellschaftlichen Veränderungen erzählt: vom Freiheitsgefühl – und von der Verantwortungslosigkeit der siebziger Jahre, in der die Kinder unbeaufsichtigt spielen konnten, aber unversehens mit der Nacktheit und dem Sexleben der Erwachsenen konfrontiert wurden. Das reicht bis in unsere Zeit der Überbehütetheit, Prüderie und Verbotsschilder am Strand. Dass ausgerechnet in der Gegenwart ein spielendes Kind in den Dünen verunglückt, muss man dabei wohl als ironischen Seitenhieb der Autorin werten, die wie ihre Hauptfigur die Sommer ihrer Kindheit und Jugend auf Cape Cod verbracht hat.
Wie ein roter Faden ziehen sich Erlebnisse von weiblicher Demütigung, Missbrauch und sexueller Gewalt durch Hellers Roman, der fast durchgängig in der Gegenwartsform erzählt ist. Besonders eindrucksvoll als Frauenfigur ist dabei Elles Mutter, die siebzigjährige Wallace, die selbst als Kind von ihrem Stiefvater missbraucht und deshalb von ihrer eigenen Mutter wie zur Strafe geohrfeigt worden war. In der Gegenwart ist aus ihr eine burschikose alte Dame geworden, die für ihre Tochter nur einen (freilich wenig hilfreichen) Ratschlag hat: als Frau in jeder Situation an die Würde von Botticellis Venus zu denken.
Heller kommt aus einer Literatenfamilie
Miranda Cowley Heller kommt nicht nur aus einer Literatenfamilie – ihr Großvater lektorierte einst die Werke William Faulkners und Ernest Hemingways, ihr Mann ist ein erfolgreicher Drehbuchautor –, sie selbst war als Chefin der Drama-Sparte bei HBO für Serien wie „Die Sopranos“ oder „Six Feet Under“ zuständig. Und keine Frage: „Der Papierpalast” ist exzellent geplottet und erzählt, entwickelt kapitelweise echte Pageturnerqualitäten – und ist natürlich längst als TV-Serie in Planung.
Zu blass bleibt jedoch der berufliche Hintergrund der Figuren. Von Elle erfährt man nur, dass sie an der NYU Literatur unterrichtet, von ihrem Mann, dass er als Finanzjournalist arbeitet. Auch Elles Stiefbruder Conrad ist mit seinen „Glotzaugen“ und seinem Übergewicht, seiner mangelnden Hygiene und Vorliebe fürs Wrestling klischeehaft denunzierend gezeichnet. Und, ach ja, auch auf Hellers unglückliche Fixierung auf den Harndrang ihrer Figuren hätte man gern verzichtet. Oliver Pfohlmann
Miranda Cowley Heller: Der Papierpalast. Roman. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. Ullstein Verlag, Berlin 2022. 448 Seiten, 22 €.