Die Welt auf einem Blatt Papier: Der „Salon du Dessin“ in Paris bleibt die beste Messe für Zeichnungen
Man hätte gern einen Blick auf den „Jeune garçon“ geworfen, den Galerist Benjamin Peronnet gerade für 50.000 Euro verkauft hat. Gezeichnet wurde der Junge mit schwarzer Tinte von Helene Schjerfbeck. In Finnland ist die 1862 geborene Malerin eine Nationalheldin, in Skandinavien ein Mythos. Und sie löst offenbar auch bei den Parisern Begehrlichkeiten aus. Aber nicht nur sie. Selbst ihr weniger bekannter schwedischer Zeitgenosse Axel Törneman war am Stand ausverkauft und wurde abgehängt, um anderen Werken Platz zu machen.
Wenige Schritte weiter bekommt man auf der Pariser Messe „Salon du Dessin“ dafür einen Jungen im roten Pullover von Lotte Laserstein zu Gesicht. Unter der Zeichnung der wiederentdeckten Künstlerin hat die Kunsthandlung Martin Moeller & Cie. aus Hamburg das Motiv zweier Boote nahe Rügen von 1843 platziert und im Fahrwasser des Jubiläums von Caspar David Friedrich gleich einen Abnehmer gefunden. Der Zeichner Johann Christian Dahl war mit dem Romantiker engstens befreundet. Über den Blumenschnitt von Phillip Otto Runge wunderte man sich in dieser exquisiten Gesellschaft nicht mehr, eher über Runges in nachdenklicher Pose gezeichneten Knochenmann.
Das betuchte Publikum ist international
Während die Kunst- und Antiquitätenmesse Tefaf in Maastricht vor wenigen Wochen vergeblich versucht hat, einen Bereich für Zeichnungen durchzusetzen, erreicht die subtile Gattung auf der 32. Ausgabe des Salon du Dessin ihre volle Blüte und einen Ansturm betuchter Liebhaber, die in den Gängen des Palais Brongniart nicht nur in Französisch, sondern auffällig oft in Italienisch, Spanisch, Englisch und Deutsch ihre Eindrücke austauschten. Kaum eine Epoche, die unter den diesmal 39 Händlern nicht vertreten ist. Das gilt auch für die Techniken Bleistift, rote Kreide, Pastell oder Aquarell.
Vier Neuzugänge erweitern die Palette. Zum Römer Paolo Antonacci und dem Londoner Emanuel von Baeyer gesellt sich François Delestre Fine Arts, an deren Stand ein Männerporträt von Gauguin für 120.000 Euro zu haben ist. Als vierter Debütant sorgt die Galerie 1900-2000 aus Paris nicht nur mit Postkarten von On Kawara für frisches Blut. Sie überrascht auch mit einer kenntnisreich sortierten, surrealistischen Auswahl von Max Ernst bis zu Jindrich Styrsky und der für die Collagistin Hannah Höch ungewöhnlich abstrakten Tintenzeichnung „Gespritzt VIII“ von 1958, die sich sogleich verkaufte.
1,2 Millionen Euro für ein Blatt von Joan Miró
„Ich habe frühere Ausgaben besucht, die alle von sehr hoher Qualität waren“, sagte Galeriedirektor Sylvain Rouillon. „Unsere Teilnahme ist eine Chance, neue Kunden zu erreichen. Unsere Preise liegen zwischen 1200 Euro für ein Werk von Gilbert Rigaud von 1938 und rund 1,2 Millionen Euro für „La Promenade de la belle Anglaise“ von Joan Miró. In dieser Preislage bewegte sich auch der Stand des Messepräsidenten Louis Bayser, wo ein Löwenkopf von Delacroix für 90.000 Euro neben einer Zeichnung von Ingres für 700.000 Euro um Aufmerksamkeit buhlen. Dominierende Genres sind Reiseskizzen, Tiere und Porträts. Der Brüsseler Patrick Lancz bestückte seinen Stand mit Werken des Symbolismus, gekürt von einem orientalischen Frauenprofil von Ferdinand Khnopff für 55.000 Euro.
Bei Maurizio Nobile aus Bologna, der auch auf der Tefaf regelmäßig ausstellt, hat man die Wahl zwischen erlesenen Köpfen aus der Hand von Prospero Antichi aus dem 16. Jahrhundert, reihenweise verkauften Selbstporträts des Haarlemers Wybrand Hendriks aus dem 18. Jahrhundert und der Neuentdeckung Lina Rosso, die sich 1913 in selbstbewusster Pose hyperrealistisch in Szene setzte.
Auf der Suche nach Werken, die nach 1945 entstanden sind, empfiehlt sich die New Yorker Galerie Zeit Contemporary Art, die für die frühe Zeichnung „Woman with a Cat Holding a Hat“ von Andy Warhol 55.000 Euro verlangte und für eine schwarz-weiße „Paysage avec deux personnages“ von Jean Dubuffet 85.000 Euro.
Die junge Messe „Drawing Now“ hat andere Preise
Noch jünger wird es beim wenige Metro-Stationen entfernten Carreau du Temple. Die Messe „Drawing Now“ bietet hier mit 73 Galerien aus 14 Ländern, ein Labyrinth auf hohem Niveau. Das Publikum ist in der einstigen Markthalle von 1863 erheblich jünger und neugierig auf neue Talente. Daran herrscht kein Mangel, auch wenn es als Sahnehäubchen selten gesehene Blätter von Größen wie Chiharu Shiota bei Templon oder Roger Ballen bei Les Douches La Galerie zu goutieren gilt.
Wie sich die Wahrnehmung der Gattung erweitern lässt, beweist die 1968 geborene Cathryn Boch bei der Galerie Papillon. Sie vernäht Seekarten, Atlasseiten, Luftbilder, Papier und Fäden, drapiert diese Hybride auf Metallstangen und spinnt um sie herum moosgrüne Fäden. Das Ergebnis ist ein Gewirr aus handgenähten und maschinellen Linien, auf dem zarte Zeichnungen auftauchen. Die Preise liegen zwischen 6000 und 16.000 Euro.
Feine Linien ahmen Haut und Muskeln nach
Da mutet das Werk von Tatjana Wolska geradezu klassisch an. Der Vergabe des diesjährigen Drawing Now Awards an die 1977 geborene Polin kann man trotzdem nur zustimmen. „Jeden Morgen“, sagt sie, „zeichne ich ab 6 Uhr anderthalb Stunden, bevor meine Kinder aufstehen. Mein Bedürfnis ist das Zeichnen, nicht über die Zeichnung nachzudenken.“
Ihre fließenden Netze und Gitter erinnern an Haut, Eingeweide und Muskeln. Dennoch sind sie keine Darstellungen anatomischer Elemente oder Organe. Es geht ums expansive Gedeihen und Aufblühen. Es könnte sich um Topografien handeln oder mutierende Zellen unter einem Mikroskop. Die feinen Schichtungen, Schraffuren mit Feder und Tusche, die leuchtenden, sich überlagernden Farbtupfer machen schwindlig – eine ganze Welt auf einem kleinen Stück Papier.