Bauen heißt, den Ort erkunden
Hinter dem Portikus des Anhalter Bahnhofs, dieser aus schlechtem Gewissen stehen gelassenen Restruine des einst so stolzen Bahnhofs, soll das Gebäude des künftigen Exilmuseums entstehen. So hat es 2020 ein Architekturwettbewerb ergeben, zu dem eine Reihe erstrangiger Büros geladen war, unter ihnen Diller Scofidio + Renfro aus New York, Nieto Sobejano aus Madrid/Berlin und ZAO standard-architecture aus Peking. Gewonnen hat Dorte Mandrup aus Kopenhagen. Ihr Entwurf eines mit Backstein verkleideten Bauwerks, das in leichter Rundung mit respektvollem Abstand hinter der Ruine aufragt und sie so umfängt, fand ungeteilten Beifall.
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Das Exilmuseum ist eines von fünf Projekten von Mandrup und ihres 1999 gegründeten Büros, die jetzt im Aedes Architekturforum am Pfefferberg in Bildern und großmaßstäblichen Modellen vorgestellt werden. Es sind besondere Bauvorhaben, zwei davon an den nördlichen Grenzen der besiedelten Welt gelegen. An der Westküste Grönlands wurde 2021 das Icefjord Centre eröffnet, von dem aus sich die Gletscher im Fjord beobachten lassen – und ihr Dahinschwinden unter der Klimaerwärmung. Bei Aedes suggerieren winterliche Fotografien das überkommene Bild vom „ewigen Eis“, doch in anderen Jahreszeiten steht Mandrups Bauwerk auf nacktem, dunklen Fels.
[ Aedes Architekturforum, Christinenstraße 18 – 19 (Pfefferberg), bis 17. August]
200 Kilometer nördlich des Polarkreises, diesmal in Norwegen, soll bis 2025 das gleichermaßen mit der kargen Landschaft verwachsene Besucherzentrum entstehen, das der Einfachheit halber „Der Wal“ heißt. Von dem flach ins Gelände geschmiegten Bau aus soll dem Treiben der Wale zugesehen werden können, die hier noch in größerer Anzahl leben. Das Bauwerk – im wesentlichen eine parabolisch gebogene, auf nur drei Punkten aufliegende Betonplatte – scheint dank seiner Verkleidung mit Naturstein geradewegs aus dem tragenden Fels herausgewölbt zu sein, bietet jedoch an drei Seiten dank bodentiefer Verglasung optimale Ausblicke.
Schließlich sind zwei der drei von Mandrup entworfenen Besucherzentren im Wattenmeer ausgestellt. Dasjenige in Dänemark greift die lokale Tradition reetgedeckter Scheunen auf. In Wilhelmshaven hat Mandrup einen aus Kriegszeiten stammenden Hochbunker mit einem umlaufenden, verglasten Bauwerk ergänzt. Zusammen mit dem dritten Zentrum in den Niederlanden beherbergen die Gebäude das „Gemeinsame Wattenmeersekretariat“, dessen Aufgabe es ist, das Unesco-Weltnaturerbe Wattenmeer zu schützen und darüber zu informieren.
Architektur, die sich auf den Ort einlässt
Fünf Bauten, die vollkommen unterschiedlich sind, sich aber allesamt ganz auf den jeweiligen Ort und die Aufgabe einlassen und daraus ihre Formensprache zu entwickeln. Dorte Mandrup hat zunächst Bildhauerei und Keramikdesign studiert, ehe sie sich der Architektur zuwandte. Das künstlerische und skulpturale Formgefühl ist all ihren Bauten eigen. Keines trumpft gegen seine Umgebung auf, sondern erkennt sie als Bedingung ihrer Existenz. Die 60-jährige Architektin sieht sich zunächst den Ort ihrer Projekte an, und sie sammelt Fundstücke. Einige davon sind jetzt bei Aedes zu sehen, treffend gekennzeichnet mit dem Begriff der „Wunderkammer“.
Das Staunen über die Fundstücke und der feinfühlige Umgang mit der Natur, der Wunsch, sie so wenig als möglich zu überformen, sind überall spürbar. Freilich wüsste man gerne, wie bei den Projekten ganz im Norden die Verkehrswege beschaffen sind oder sein werden, ohne die kein Besucher dorthin gelangt.
Beim Exilmuseum ist das kein Problem, sein Standort liegt unmittelbar neben dem S-Bahnhof. Unterhalb der fein ornamentierten, gerasterten Backsteinfassaden öffnen sich bogenförmige Zugänge, auch sie wieder bodentief verglast. Eine Einladung: Niemand soll abgehalten werden, das Exilmuseum zu betreten. Mit ihm erhält die traurige Ruine nach dem Bahnhofs-Abriss Anfang der 1960er Jahre ihre Bedeutung als Mahnmal für diejenigen, die aus Berlin vertrieben wurden. Dorte Mandrup hat für diese Bauaufgabe eine Lösung gefunden, die sich schon auf den computergenerierten Ansichten als unverwechselbar einprägt. Bernhard Schulz