Sie, die Herrlichste von allen

Natürlich muss Daniel Barenboim dabei sein, wenn alljährlich zum Saisonstart die großen Orchester der Stadt zusammen mit exquisiten Gästen von außerhalb das „Musikfest Berlin“ feiern. Auch wenn der Staatsopern-Chefdirigent sich nur selten an die programmatischen Leitlinien hält, die der „Musikfest“-Macher Winrich Hopp vorgibt. Kein Spätwerk von Igor Strawinsky interpretiert der Maestro diesmal, wie viele seiner Kollegen, er hat auch keine Neue Musik aufs Programm gesetzt, noch nicht einmal einen Klassiker der Moderne.

Nein, Barenboim widmet Robert Schumann den gesamten Abend in der Philharmonie, lässt seine Staatskapelle für die erste und zweite Sinfonie des Romantikers in großer Besetzung antreten. Aber es ist ihm eben auch gelungen, seine gerade 80 Jahre alt gewordene Künstlerfreundin Martha Argerich dafür zu gewinnen, noch einmal in Berlin Schumanns Klavierkonzert zu spielen.

Ein gefühlte halbe Ewigkeit dauert es, bis die stets von Lampenfieber Geplagte endlich erscheint, lange starrt das Publikum im sehr gut gefüllten Saal auf den schwarzglänzenden Konzertflügel, der während der „Frühlingssinfonie“ schon am rechten Bühnenrand darauf gewartet hatte, dass die Bühnentechniker ihn mittig platzieren. Dann aber ist Martha Argerich da, das Haupt umwallt von der charakteristischen weißgrauen Haarpracht, umbrandet vom Applaus der vielen, die am Mittwoch nur ihretwegen gekommen sind.

Sie singt auf den Tasten

Einmal aufgetreten, zögert sie nicht lange, setzt selbstsicher die eröffnenden Akkorde des Soloparts, formuliert dann das lyrische Hauptthema mit stupender Klarheit – und man kann körperlich spüren, wie sich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf die Pianistin fokussiert. Denn da spielt eine Wissende, eine Interpretin, die Schumanns Musik über Jahrzehnte tief verinnerlich hat, und die sie gleichzeitig jedes Mal so neu, so packend erzählen kann, als habe sie deren Schönheiten gerade erst entdeckt.

Frei strömt die Musik, von jedem Formkorsett befreit, in den selbstvergessenen Momenten kann Martha Argerich auf den Tasten singen wie eine liebende Mutter für ihre Kinder, die virtuosen Passagen sind frei von jeder Art des Auftrumpfens. Die beiden Seelen in der Brust jedes Romantikers, die Robert Schumann in seinen musikliterarischen Schriften durch das ungleiche Zwillingspaar Eusebius und Florestan personifiziert, diese helldunkle Doppelgesichtigkeit wird auch im Spiel der Argentinierin erfahrbar.

Das Publikum dankt mit Standing Ovations

Im langsamen Satz vermag sie die Melodien so plastisch in den Klangraum zu stellen, dass man danach greifen möchte, ungläubig staunend, dass hier nur Hämmerchen auf Stahlsaiten treffen. Eine von innen leuchtende Festlichkeit schließlich verströmt sich im Finale, vom Auf und Ab der Klavierläufe werden nicht wenige Zuhörer:innen derart mitgerissen, dass unwillkürlich ihre Oberkörper in Bewegung geraten, wie reifer Weizen im Wind.

Nach dem Schlussakkord brandet Jubel auf – und der Saal erhebt sich. Viel zu oft und zu leichtfertig wird die symbolische Geste der standing ovations ja mittlerweile im Klassikbetrieb bemüht. Hier aber ist sie wirklich einmal angemessen, als Zeichen des Dankes an eine Jahrhundertkünstlerin, an – um einen Liedtitel aus Schumanns „Frauenliebe und -leben“ zielführend anzupassen – „Sie, die Herrlichste von allen“.