Unsere Farm im Nirgendwo
Oma ist komisch. Sie backt keine Kekse, klopft Karten wie Sprüche und hockt am helllichten Tag vor dem Fernseher, statt sich nützlich zu machen. Ihr süßer Enkel David (Alan Kim), der die aus der alten Heimat seiner Eltern angereiste Soon-Ja (Yuh-Jung Youn) nie gesehen hat, kann sie nicht leiden.
„Großmutter riecht nach Korea“, heult David, als er täglich den Kräutersud trinken soll, mit dem Soon-Ja sein schwaches Herz stärken will. Wie die verschmitzte Großmutter und ihr ebenso gewitzter Enkel nach und nach zu Verbündeten werden, das ist ein zärtlich inszeniertes Wunder in „Minari – Wo wir Wurzeln schlagen“.
Yuh-Jung Youn gewinnt den Oscar für die beste Nebenrolle
Zwar ging keiner der fünf Oscars, für die Lee Isaac Chungs Familiendrama bei den diesjährigen Academy Awards nominiert war, an „Minari“. Aber immerhin hat die koreanische Schauspielgröße Yuh-Jung Youn den Oscar für die beste Nebenrolle gewonnen.
Das passt irgendwie zum erzählerischen Understatement eines Films, der dem heroischen nordamerikanischem Siedlermythos eine frische, unpathetische Facette aus dem Arkansas der frühen achtziger Jahre hinzufügt.
Den Jahren, als mit Ronald Reagan ein Western-Darsteller auf dem Präsidentenstuhl sitzt, der sich als Selfmademan sieht.
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Genauso wie der aus Südkorea eingewanderte Jacob Yi (Steven Yeun), der mit seiner Frau Monica (Ye-Ri Han), der zwölfjährigen Anne (Noel Kate Cho) und ihrem kleinem Bruder David nach Arkansas zieht.
Zehn Jahre haben die Yis als „Küken-Sexer“ in Brutbetrieben gearbeitet und Küken auf das Hinterteil geschaut, um sie in Hennen und Hähne zu sortieren. Doch Jacob glaubt wie alle echten Amerikaner an das Unabhängigkeitsversprechen von fruchtbarem Boden und eigenem Land.
Vom Ersparten kauft er ein paar Hektar billiges Land und verfrachtet die Familie aus Los Angeles in die einsamen Ozarks, wo sich die Neuankömmlinge in einem lausigen Trailer einquartieren müssen, anstatt des erhofften Farmhauses.
Um die enttäuschte Monica zu beschwichtigen, die sich mangels Krankenhauses in der Wallachei Sorgen um das Loch im Herzen von David macht, soll deren Mutter aus Korea anreisen. Und die Samen der Minari-Pflanze, die Soon-Ja mitbringt und unten am Fluss aussät, wachsen sich trotz aller Existenzgründerprobleme zum grünen Band zwischen der früheren südkoreanischen- und der jetzigen amerikanischen Heimat aus.
Dass das würzige Kraut völlig unabhängig von menschlicher Pflege wie von selber wächst, kontrastiert noch dazu hintersinnig Jacobs professionellen Gemüseanbau auf dem neu angelegten Acker. Um ihn zu bewässern, will er sich keineswegs auf die Künste eines Wünschelrutengängers verlassen.
„Amerikaner glauben diesen Unsinn wirklich“, teilt er Sohn David mit, „wir nutzen unseren Verstand“. Wobei Jacobs koreanische Wesenshälfte mit der amerikanischen den Glauben an die alles bewältigende Kraft harter Arbeit und unbedingten Willens teilt. Ein patriarchales Ideal, dass der pragmatischen Monica fremd ist. Und je länger die Doppelbelastung aus Küken sortieren, das auch in Arkansas den Unterhalt sichern muss, und Gemüseanbau dauert, desto schiefer hängt der Haussegen.
Regisseur Chung ist selbst so aufgewachsen
Ein gut Teil der Glaubwürdigkeit, die Lee Isaac Chungs Gesellschaftsporträt auszeichnet, liegt darin, dass der Sohn koreanischer Eltern eigene Erinnerungen an das Aufwachsen auf einer kleinen Farm in den Ozark Mountains in das Drehbuch einfließen ließ.
Inklusive eines von der Großmutter versehentlich entfachten Feuers. Der Kenntnis um die Unwägbarkeiten der Landwirtschaft. Und der schrägen Figur Paul, den Will Paton als groben, guten Kerl spielt.
Paul ist Pfingstler und zieht es sonntags vor, Gott nicht artig der Kirche zu lobpreisen, sondern sich Jesu’ Kreuz selber aufzuladen und über staubige Landstraßen zu schleppen.
So spinnert das ist, so brauchbar erweist sich Paul als Hilfskraft beim Gemüsebau. Dorfdepp und Einwanderer bilden ein dynamisches Außenseiter-Duo. Genau wie bald auch David und der Mitschüler, der ihn ob seiner asiatischen Züge anpflaumt „Warum ist dein Gesicht so flach?“
Bei Chung gerät so eine Szene nicht zum Rassismus-Zeigefinger, sondern zu einer witzigen, vielsagenden Kindermund-Szene.
Die undogmatische Neugier und Genauigkeit, mit der Chung die menschlichen Beziehungen im universellen Mikrokosmos Familie und Freundschaft beobachtet, lässt sich genauso wie im Hochglanzprodukt „Minari“ schon im ungleich raueren Debüt „Munyurangabo“ finden.
Der Debütfilm spielt in Ruanda
Die in Cannes uraufgeführte Coming-of-Age-Geschichte ist derzeit auf der Arthouse-Streamingplattform Mubi zu sehen. Eine gute Gelegenheit, die Entwicklung einer filmischen Handschrift anhand beider Filme gewissermaßen im Zeitraffer nachzuvollziehen. Nur zwei andere Filme liegen dazwischen.
„Munyurangabo“ entstand 2007 in Ruanda und erzählt von der Freundschaft der Teenager Sangwa und Ngabo. Die beiden schlagen sich in Kigali mit Hilfsjobs durch. Dass sie ein Hutu und ein Tutsi sind, deren Freundschaft durch den Genozid fast unmöglich gemacht wird, stellt sich erst bei einem Besuch in Sangwas Dorf heraus, wo Mutter und Vater als Kleinbauern leben.
[“Minari – Wo wir Wurzeln schlagen” läuft in elf Berliner Kinos, “Munyurangabo” auf der Streamingplattform Mubi]
Die respektvolle Haltung, mit der Lee Isaac Chung in Ruanda das Verhältnis zwischen Individuen und Traditionen hinterfragt, ähnelt der, mit der er den sanften, aber kompromisslosen Familienvorstand Jacob in „Minari“ beschreibt.
Dessen frommer Emigrantenwunsch der Achtziger, dass es die Kinder einmal besser haben sollen, nimmt sich von heute aus betrachtet rührend aus. Und ist dennoch auch der Wunsch, der jetzige Auswanderer antreibt.
Im warmen Licht eines Sommertages gehen Jacob und David zum Bach.
Gerade war der Wunschelrutengänger da, um Ersatz für den versiegten Brunnen zu finden. Der Vater schneidet ein Büschel Minari ab. „Großmutter hat einen guten Ort ausgesucht“, sagt er zu David. Sie wusste um die Magie von Ort und Zeit.