Graciela Iturbide in der Fondation Cartier

Die Fotografie sagt Graciela Iturbide, helfe ihr zu verstehen, was sie sehe, wofür sie lebe und was sie fühle: „Sie ist ein guter Vorwand, um die Welt und ihre Kulturen kennenzulernen.“ Das gilt umgekehrt auch für die Betrachter:innen ihrer Arbeiten. Für sie sind die Aufnahmen der heute 80-jährigen Fotografin ein großartiger Anlass, das eigene Verständnis der Welt noch einmal zu befragen.

Gelegenheit dazu bot sich in Deutschland bislang nur beim kleinen Fotografie Forum Frankfurt. In Berlin: Fehlanzeige. Obwohl Institutionen wie die Tate Modern oder das Centre Pompidou Iturbides Werk als entscheidenden Beitrag zur visuellen Kultur und Identität Mexikos längst ausgestellt haben. Jetzt heißt es wieder Paris: Dort zeigt die Fondation Cartier die mehr als 200 Bilder umfassende Retrospektive „Heliotropo 37“, deren Titel sich von der Adresse ihres Studios in Mexico-City herleitet.

Im Alter schwindet Iturbides Aufmerksamkeit für Menschen

Empfangen wird man in der lichten Halle des Erdgeschosses mit bislang selten gezeigten Großformaten von Iturbides Alterswerk. Wie immer handelt es sich um Schwarz-Weiß-Abzüge. Die schlichte Stillleben präsentieren die Fotografin auf der Höhe ihrer Kunst, verbinden Dokumentation und poetische Wahrnehmung des Alltags untrennbar miteinander.

Im diesem Spätwerk verschwinden die Menschen mehr und mehr. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich stattdessen auf Materialien und Texturen. Iturbide reist viel in dieser Zeit, besucht Indien, Pakistan, Japan, Italien und die USA. Und da sie mit dem Leben und der Kultur dieser Länder wenig vertraut ist, findet sie ihre Bilder nicht im Versuch, den Menschen sozialdokumentarisch auf die Spur zu kommen, sondern in der „Überraschung des Gewöhnlichen“, wie sie sagt, das sie überall auf der Welt findet.

Auch Tiere spielen im Spätwerk eine prominente Rolle. „Caballito para Gerzso, Aldea Acadia, Lafayette, Louisiana, Estados Unidos 1997“: Ein Pferd in der linken unteren Ecke und zehn Stromkabel, die, wie aus dem Nichts kommend, als dunkle Linien von rechts über den Himmel nach links unten zum Pferd verlaufen, ergeben ein perfektes Bild – nicht zuletzt von der prekären Lage der Kreatur in einer von ungeheuerlichen Kräften angetriebenen Welt.

Faszinierend die Aufnahmen von Kakteen, die so mächtig sind, dass sie gestützt werden müssen. Heftig bandagiert, mit dicken Lagen Zeitungspapier umwickelt und schweren Hanfseilen an Holzlatten gebunden, erzählen die kapriziösen Pflanzen-Architekturen und Skulpturen von naturgegebener Hinfälligkeit und menschlichem Bemühen. Die Aufnahmen entstanden im 1993 eröffneten Botanischen Garten von Oaxaca de Juárez, der vor allem die Pflanzen der Region sammelt und dokumentiert.

Dokumentation und poetische Wahrnehmung

Erstmals im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca fotografiert hatte Graciela Iturbide 1979 auf Einladung von Francisco Toledo, einem bekannten Maler zapotekischer Abstammung. Ihre in Juchitán entstandenen Aufnahmen begründeten ihre Karriere. Im Untergeschoss der Fondation erstaunen nun Porträts von fröhlichen, körperlich mächtigen Frauen von offenkundig unerschütterlichem Selbstbewusstsein sowie Aufnahmen von herausgeputzten Männern in Frauenkleidern. Die matriarchale Stadtgesellschaft kennt die Praxis, wechselnde Geschlechterrollen einzunehmen, samt der Möglichkeit eines dritten Geschlechts.

Hier gelang Graciela Iturbide ihre berühmteste Fotografie. Auf dem Markt beobachtete sie eine Frau, die die Leguane, die sie verkaufen wollte, in ihr Haar gebettet auf dem Kopf trug. Iturbide bat die Frau um ein Foto, und es entstand die Ikone „Nuestra Señora de las Iguanas.“ Das Bild gehöre ihr nicht länger, sagt die Fotografin, so ungeheuer populär sei es in Mexiko geworden Bis heute findet es sich auf Plakaten und Postkarten; in den Sozialen Medien ist es längst viral gegangen und in Juchitán schmückt es als Bronzeskulptur den Marktplatz.

[Fondation Cartier, Paris; bis 29. Mai, Katalog: 45 Euro]

Graciela Iturbide wurde 1942 als erstes von dreizehn Kindern einer wohlhabenden katholischen Familie in Mexico-City geboren. Traditionell erzogen, heiratete sie mit 20 Jahren den Architekten Manuel Rocha Diaz und bekam in schneller Folge drei Kinder. Der Aufbruch Ende der 1960er Jahre erschütterte auch diesen Lebensentwurf.

Als Folge schrieb sie sich in die Filmschule der Universidad Nacional Autonoma de Mexiko ein und entdeckte dort die Fotografie und Manual Alvarez Bravo. Der große Fotograf wurde ihr Mentor, den sie 1971 als Assistentin auf seinen Reisen durch Mexiko begleitete.

Spannungen zwischen Tradition und westlicher Moderne

Hier lernte sie die indigenen Gemeinschaften des Landes kennen und entwickelte ihre eigene fotografische Sprache als genaue und geduldige Beobachterin. Im Untergeschoss sind Iturbides berühmte Serien aus den achtziger und neunziger Jahren zu sehen, stets bei natürlichem Licht, ohne Stativ, Blitz oder Teleobjektiv aufgenommen.

1978 porträtierte sie den nomadischen Stamm der Seri, machte die kulturellen Spannungen zwischen Tradition und westlicher Moderne sichtbar. 1980 beschäftigte sie sich mit der White Fence Gang in Boyle Heights, Los Angeles, deren Mitglieder taub sind, 1990 mit dem grausam anzuschauenden Schlachten junger Ziegen, ein Ritual und Fest im Bergland von Mixteca.

Tatsächlich fällt in ihrem Werk eine starke Beschäftigung mit dem Tod auf. Darauf angesprochen, erklärt sie im Katalog, sie habe dabei an Jean Cocteau gedacht, der sagte, der Film sei der einzige Weg den Tod zu besiegen. Das gelte auch für die Fotografie.