„Please don’t take me Home“
Flank den verdammten Ball nicht rein, Christopher. Don’t cross that fucking ball, Christopher. Der Trainer von Wales ruft diesen Satz fünf Minuten vor Spielende von der Außenlinie, Kameramikrofone fangen seine Worte ein. Wales liegt da im EM-Viertelfinale sensationell 2:1 gegen den absoluten Favoriten Belgien in Führung. Der Ball läuft auf die rechte Seite zu Chris Gunter. Er nimmt ihn an, zehn Meter von der Eckfahne entfernt und schaut hoch.
Nicht nur sein Trainer, sondern alle Fans lesen seine Gedanken, sie erschrecken: Der wird doch wohl nicht?… flanken?
In diesem Moment der Anspannung nennt der Coach ihn nicht beim Spitznamen Chris, er ruft wie ein Vater, der zornig ermahnt: „Christopher!“ Denn eigentlich ist klar, was der Außenverteidiger Gunter zu tun hat. Sein Team ist der Underdog in diesem Spiel; es gilt, die Führung irgendwie über die Zeit zu retten. Also den Ball schnappen, zur Eckfahne rennen, ihn da halten, vielleicht gefoult werden, vielleicht selbst foulen. Vielleicht den Ball unters Shirt nehmen und über die Linie robben. Ganz egal, nur Zeit gewinnen. Doch Gunter flankt diesen verdammten Ball in die Mitte.
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Vielleicht dreißig Meter entfernt von Gunter steht Dylan Llewelyn auf der Tribüne im französischen Lille. Ein Mann in seinen Fünfzigern mit kurzen braunen Haaren, ein leidgeprüfter Fan der walisischen Nationalelf. Das lässt sich so einfach schreiben, aber bei Llewelyn stimmt es wirklich. In den neunziger Jahren war er mit Wales überall in Europa, überall sah er Klatschen, beim Spiel in Österreich 1992 standen neben ihm gerade mal zehn andere Fans.
Sie bewegten sich im Fußball so ziemlich am äußersten Rande des Abgrunds. Nun, an einem Julitag 2016 in Frankreich, ist Llewelyns Team nicht nur bei einem Turnier dabei, sondern steht kurz vor dem Halbfinale. Er wird später erzählen, wie sich sein 15 Jahre alter Sohn an ihn klammert, als Wales gegen Belgien die Führung verteidigt. Von der Mutter lebt Llewelyn getrennt, oft sieht er seinen Sohn nicht. Ein gewöhnlicher Teenager ist er, antwortet nie mit mehr als zwei Worten, zeigt keine Emotionen. Doch in diesem Sommer ist für Waliser nichts mehr gewöhnlich.
Nationaltrainer Gary Speed nimmt sich das Leben
Gunter flankt den Ball in die Mitte und der eingewechselte Sam Vokes köpft ihn eiskalt ins Tor. 3:1. Wales steht im Halbfinale, die kleinste Nation, der das je gelungen ist. Auf der einen Seite geht Belgien in die Knie, Stars wie Lukaku, De Bruyne, Hazard. Auf der anderen Seite feiert Wales. Gunter spielt sonst für den englischen No-Name-Klub Reading, Vokes für Burnley, der Schütze zum 2:1 ist vereinslos.
Sie rennen sich gegenseitig fast über den Haufen, Gunter schaut wie jemand, der gleichzeitig erschrocken und verzückt über sich selbst ist. Er zeigt auf den Fanblock, bevor seine Kollegen auf ihn springen. Und in diesem Fanblock hält Dylan Llewelyn seinen Sohn in den Armen. „Er war ein Emotionsbündel, er zitterte und weinte. Dieser Moment entschädigte für 40 Jahre Enttäuschungen bei Heimspielen und 25 Jahre Auswärtsfahrten mit Wales. Ich meine, es war doch Irrsinn. Wir schlagen Belgien. Wales steht im Halbfinale. Wales!“
War es wirklich so ein Irrsinn, mögen manche Beobachter fragen. Schließlich spielte mit Gareth Bale einer der teuersten Spieler der Geschichte für Wales, zudem mit Aaron Ramsey und Joe Allen zwei Kicker von internationalem Format. Um den Irrsinn besser zu erklären, reicht ein Fischerhut. Vor dem Turnier hatten die Fans einen solchen in Grün, Gelb und Rot drucken lassen.
Auch eine Tragödie
Es waren die Farben des WM-Trikots 1958, dem letzten Turnier mit walisischer Beteiligung. In den folgenden 58 Jahren hatte das kleine Land große Spieler hervorgebracht wie den Torwart Neville Southall oder die Man-United-Legende Ryan Giggs. Doch genauso zuverlässig war es in letzter Minute an der Qualifikation gescheitert. Im August 2011 rangierte Wales auf Platz 117 der Weltrangliste. „We never qualify“, sangen die Anhänger in einer besonderen Mischung aus Selbstironie und Selbstkasteiung.
Doch es war nicht nur die wenig erbauliche Historie, die auf den Schultern dieser Fußballnation lastete. Da war auch eine Tragödie, die jeden Spieler, Trainer oder Fan beinahe erdrückte. In der Nacht zum 27. November 2011 hatte sich Gary Speed das Leben genommen. Speed war nicht nur einer der populärsten Fußballer des Landes gewesen, sondern zu diesem Zeitpunkt auch Nationaltrainer. Die Spieler standen unter Schock. Aaron Ramsey gab ein Jahr später die Kapitänsbinde ab, weil er immer noch nicht über den Verlust seines Trainers hinweggekommen war. Wales verpasste die Qualifikation zur WM 2014 sang- und klanglos. Man muss dieses Tief kennen, um das emotionale Hoch von 2016 richtig zu verstehen.
Die Waliser brauchten lange, bis sie zurück in die Balance fanden. Zunächst fehlte ihnen der Wille, sich ob der Umstände in ein banal erscheinendes Spiel hineinzusteigern. Dann wollten sie die Tragik und die Pleiten mit aller Macht auf dem Platz vergessen machen. Beides misslang. Auch ihr Trainer gestand ein, zunächst zu zurückhaltend und dann zu fordernd mit seinen Jungs umgegangen zu sein. Als er während der Qualifikation für die EM 2016 den gesunden Mittelweg fand, versammelte sich gleichzeitig ein perfekt harmonierendes Team um ihn.
Trauzeuge Gunter bleibt in Frankreich
Hochdekorierte Ausnahmespieler wie Gareth Bale gliederten sich frei von Allüren ins Team ein, grätschten und liefen wie Nachwuchskräfte. Bales Identifikation mit dem Nationalteam geht so weit, dass ihm von ehemaligen Real-Madrid-Spielern nachgesagt wurde, für ihn zähle erst Wales, dann Golf und erst an dritter Stelle sein Verein. Die walisischen Fans machten daraus natürlich direkt ein Banner (und einen Song): Wales. Golf. Madrid. In that order. In genau dieser Reihenfolge.
Hinter Bale ackerten Leute wie Chris Gunter, ein Mann mit der nötigen Unverfrorenheit auf dem Rasen, aber auch Sensibilität für die Ränge. Es gab da eine Szene nach dem zweiten EM-Vorrundenspiel gegen England, das Wales in allerletzter Minute mit 1:2 verlor. Die walisischen Fans sackten auf der Tribüne zusammen. Gunter lief nach Abpfiff zum Fanblock und drückte seine Handkante gegen das Kinn. Chin up! Kopf hoch. Die Fans erhoben sich, einige ballten die Fäuste, während ihnen so kurz nach dem Spiel noch die Tränen der Wut in den Augen standen.
„Wales! Wales! Wales!“, hallte es Gunter entgegen. Er war Herz und Lunge von Wales. Durch die Gunters dieser Welt können die Bales erst richtig strahlen. „Chris war wie ein Fan, der es auf den Rasen geschafft hatte“, erzählt Jonny Owen, der mit der EM-Doku „Don’t take me home“ so etwas wie das walisische „Sommermärchen“ filmte. „Chris sagte zu mir: Wenn er nicht gespielt hätte, hätte er genau dort oben gestanden – im Fanblock. Und das fasst diese Mannschaft und diesen ganzen Sommer wunderbar zusammen. Team und Fans waren eins.“
Natürlich hätte Gunter im Fanblock gestanden. Wie Zehntausende andere Waliser. Wer in Frankreich im Sommer 2016 eine Bar, ein Stadion oder ein Hostel betrat, traf zwangsläufig auf einen Waliser. Überall torkelte ein freudestrahlender Mensch mit einem grün-rot-gelben Fischerhut herum. „Don’t take me home“, sangen sie in Toulouse vor dem entscheidenden Gruppenspiel gegen Russland. Vor dem Pub „Melting Pot“ versammelten sich Tausende in der Mittagssonne, immer wieder kletterten einige Fans auf das Dach, um von dort einen Abschlag mit einem Gummiball in die Menge zu wagen.
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Mittendrin erinnerte ein großes Banner an den verstorbenen Gary Speed. Als die Sonne unterging, pilgerten zahllose Fischerhüte aus der Altstadt zum Stadion. An diesem milden Sommertag, einem der ersten regenfreien des Turniers, gewann Wales das Spiel bereits vor dem Anpfiff. Das rote Meer im Block brodelte so betörend laut bei der Hymne, dass selbst die russische Seite andächtig lauschte. Die Mannschaft überrannte den Gegner mit 3:0. Die Waliser schoben sich mit diesem Sieg auf den ersten Platz, vorbei an England.
Dylan Llewelyn machte sich daran, die weitere Route zu planen. Denn wie viele andere Fans hatte er damit gerechnet, nur drei Spiele (und wohl drei Niederlagen) seines Teams zu sehen. Er reiste zurück in ein Kaff namens Pwlheli, sein Sohn musste Schulprüfungen bestehen, er selbst zur Arbeit. Nur um dann wieder über Genf, Amsterdam oder Liverpool möglichst günstig nach Frankreich aufzubrechen.
Die Fans pendelten zwischen zwei Welten. Während sie den Sommer ihres Lebens feierten und so lange wie möglich in Europa bleiben wollten, stimmte ihre Heimat für den EU-Austritt. Wen man auch unter den Walisern in Frankreich fragte – fast keiner hatte für „Leave“ gestimmt.
Sie sollten noch länger bei der Euro bleiben, im Achtelfinale besiegten sie die Nordiren mit 1:0 und im Viertelfinale nach Gunters verdammtem Ball in die Mitte die Belgier. Ein Waliser hatte seinen Wagen auf einem Kurzzeitparkplatz am Flughafen Birmingham abgestellt und nahm die über tausend Euro Parkgebühren einfach in Kauf.
Rechtsverteidiger Chris Gunter verpasste die Hochzeit seines Bruders, bei der er den Trauzeugen geben sollte. Und er kommentierte seine Absenz mit der ihm eigenen Trockenheit: „Am Donnerstag ist seine Hochzeit, am Sonntag das Finale – vielleicht ist er bis dahin ja schon wieder geschieden.“
Von Dublin bis Aserbaidschan
Doch in puncto Aufopferung für das walisische Nationalteam reichte wohl keiner an Mark Ainsbury heran. Vor dem Halbfinale in Lyon wurde er von den Fans in der Stadt gefeiert, der bärtige Mann schaute scheu unter dem obligatorischen Fischerhut hervor. Ainsbury war Ende 40, er hatte seit drei Jahrzehnten kein Spiel mehr verpasst, auch wenn er dafür ins Gefängnis musste. Im Jahr 1994 war er kurz nach der Unabhängigkeit Moldawiens als einer der ersten Fans mit dem Zug aus Rumänien eingereist.
„Wir kamen über Nacht und hatten keine Visa. Als wir sagten, dass wir zum Fußballspiel wollten, hielten sie uns für Spione. Wir kamen zwei Tage ins Gefängnis. Ich habe beinahe für unseren sicheren Tod gesorgt, weil ich einen der Soldaten im Schach besiegte.“ Ainsbury war dem Team von einem Ende Europas zum anderen gefolgt, von Dublin bis Aserbaidschan. Auf die Frage, welches Land das seltsamste sei, das er auf seinen Reisen gesehen hatte, antwortete er natürlich: „England.“
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Seine Stimme hatte er irgendwo in Südfrankreich gelassen, ein mehrfach gewickelter Schal bedeckte den Hals. Während andere Fans um ihn herum französischen Weißwein aus der Flasche tranken und den Joe-Ledley-Tanz vollführten, wurde Ainsbury zum Poeten. Alles, was in Frankreich passierte, sei vorher nur schwer vorstellbar gewesen. Er sei bis zu seinem Lebensende dankbar für die „regengetränkte glorreiche Nacht von Lille“, das Tor zum 3:1 habe „ungezügelte Genusssucht“ ausgelöst. „Ich bin der verrückteste Träumer von allen, aber das hier übertrifft alle meine Träume.“
Wales bei der EM – das war kitschig, aber nicht klebrig. Selbst als der Traum vorbei war, fanden sie schnell ihre Stimme wieder. Das Halbfinale verlor Wales gegen den späteren Europameister Portugal 0:2, vor dem Stadion in Lyon sangen sie das Volkslied „Calon Lan“.
Bei der EM 2020 ist Wales wieder dabei. Zum Auftakt gab es ein 1:1 gegen die Schweiz. Es kann vielleicht noch lauter werden, diesmal in Baku und Rom. Doch das echte Märchen fand in Frankreich statt. Denn ein Tal von 58 Jahren Scheitern und Niederlagen in Moldawien oder sonst wo, die Häme aus England und der Tod von Gary Speed erklärten die Ekstase der EM 2016. Llewelyn sagt: „Ich würde am liebsten mein ganzes Leben diesem Adrenalin der vier Wochen in Frankreich hinterherjagen. Aber selbst wenn ich 120 werde, erlebe ich wohl niemals wieder so ein emotionales Hoch wie in diesen Wochen.“