Versteinerte Begehren
Das Meer tobt, der Wind wütet. Die tosende Kulisse macht keine Lust auf einen Strandspaziergang. Doch Mary Anning (Kate Winslet) ist auch nicht zum Vergnügen an der Küste von Dorset im Südwesten Englands unterwegs. Sie sucht dort in den 1840er Jahren nach Fossilien, um sie an Touristen zu verkaufen.
In ihrer Jugend hatte sie mal einen beeindruckenden Schwimmsaurierer gefunden, der nun im British Museum ausgestellt ist. Statt ihres Namens steht an der Vitrine allerdings der des Käufers. Diese Auslöschung zeigt Regisseur und Drehbuchautor Francis Lee gleich zu Beginn seines zweiten Spielfilms „Ammonite“. Mary Anning – die Figur basiert auf der gleichnamigen Forscherin – ist in Fachkreisen trotzdem bekannt.
Und so kontaktiert sie eines Tages der Hobby-Paläontologe Roderick Murchison (James McArdle), ein echter Fanboy, mit der Bitte, ihn mal auf eine Tour mitzunehmen. Mary willigt ein, sie und ihre Mutter (Gemma Jones) brauchen dringend das Geld. Allein aus diesem Grund geht sie auch auf die zweite Bitte Murchisons ein: Sie soll seiner schwermütigen Ehefrau Charlotte (Saoirse Ronan) Gesellschaft leisten, während er auf eine Studienreise geht.
Die beiden Frauen stammen aus völlig verschiedenen Welten: Charlotte trägt feine Roben, spielt Klavier und stickt gerne. Körperliche Tätigkeiten sind der zarten Person fremd. Mary ist hingegen stark, entstammt aber der Unterschicht. Sie trägt stets dasselbe schlichte Kleid und lebt von harter körperlicher Arbeit.
„Ammonite“ ist deshalb ein ungemein physischer Film. Ein zentrales Motiv sind Marys Hände, denen weder Kälte, Steine noch Schlamm etwas anhaben können. Sie packen zu, schlagen sich durch, wovon ihre meist dreckigen Fingernägel zeugen. Den Kontrapunkt zu den tatkräftigen Händen bildet die zurückgenommene Mimik von Mary, deren Gefühlswelt so versteinert zu sein scheint wie die Skelette, nach denen sie die Strände absucht.
Liebe überwindet Klassenschranken
Derart zurückgenommen hat man Oscarpreisträgerin Kate Winslet selten gesehen. Doch gerade aus dieser Reduziertheit erwächst eine Spannung, vor allem, wenn die emotionale Versteinerung langsam aufbricht und aus den Andeutungen eines Lächelns tatsächlich ein Strahlen wird. Verantwortlich dafür ist die von Ronan mit eindringlicher Liebenswürdigkeit verkörperte Charlotte.
Sie übersteht dank Marys Pflege eine schweren Grippe, aus ihrer Bewunderung für die ältere Frau entsteht eine vorsichtige Nähe. Auch hier sind die Hände von essenzieller Bedeutung: Einmal berührt Charlotte fast beiläufig Marys Schulter, später ergreift sie in einem emotionalen Moment deren Hand. Doch erst nachdem die beiden vierhändig einen Stein aus den Uferfelsen gelöst, nach Hause geschleppt und präpariert haben, kann Mary die Leidenschaft Charlottes erwidern – und die eigene zulassen.
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In „Ammonite“ scheint vieles auf, was vor vier Jahren schon Lees Debüt „God’s Own Country“ auszeichnete. Schon da kombinierte der Brite schroffe Landschaftsbilder mit schweigsamen, gegensätzlich Figuren, die sich allmählich annähern. Begehrten sich dort zwei Männer, sind es jetzt zwei Frauen. Wobei in „Ammonite“ noch eine interessante Ebene hinzukommt: Von der echten Mary Anning ist nicht bekannt, ob sie Beziehungen zu Frauen hatte. Lee, der sagt, dass er kein Biopic drehen wollte, öffnet so einen Möglichkeitsraum.
Am Ende zeigt er Mary beim Besuch im British Museum: Für einen Moment steht sie vor dem Porträt eines Mannes und wendet ihren Kopf so, dass der Abgebildete komplett verschwindet und Mary stattdessen im Goldrahmen erscheint. Frauen – nicht zuletzt lesbische – wurden in der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte oft unsichtbar gemacht. Francis Lee imaginiert mit seiner Mary nun eine Stellvertreterin für sie. Eine gewagte queere Intervention, die nicht allen gefallen wird – aber in der Umsetzung durchaus inspiriert. (In zehn Berliner Kinos, auch OmU)