Reibung erzeugt Kraft

Nun sitzt er vor einem, perfekt gekleidet in Anzug samt Einstecktuch, und man denkt daran, dass es Zeiten gab, in denen so ein Treffen mit Moritz von Oswald praktisch unmöglich war. Ab den frühen Neunzigern prägte er gemeinsam mit seinem musikalischen Partner Mark Ernestus den Berliner Techno wie kaum ein anderer.

Die beiden brachten als Basic Channel, Maurizio und unter anderen Alias–Namen eine vorher kaum gekannte Tiefe in den neuen elektronischen Clubsound. Sie imitierten nicht nur ihre Vorbilder aus Detroit, wo Mitte der Achtziger der Techno erfunden wurde, sondern reicherten ihn um neue Elemente an.

Ihre selbstgestellte Aufgabenstellung lautete: Wie lässt sich Techno mit pulsierendem, effektsatten Reggae-Dub amalgamisieren, praktisch Kingston an die Spree verlegen? Ein ganzes Sub-Genre kreierten die beiden: Dub-Techno.
In all den Jahren, in denen Moritz von Oswald und Mark Ernestus ihren weltweit verehrten Sound weiterentwickelten, schwiegen sie zu allem, was sie da machten. Wie für die Betreiber des Berghain heute galt auch für sie: Wir sind praktisch unsichtbar, es ist uninteressant, wer wir sind und wir reden nicht öffentlich über das, was wir machen.

Inzwischen ist alles ein wenig anders. Die Partnerschaft mit Mark Ernestus, der in Kreuzberg auch den Plattenladen Hard Wax betreibt, ist beendet. Aus dem ehemals gemeinsam betriebenen Mastering-Studio „Dubplate & Mastering“, das weltweit gefragt ist, hat sich von Oswald inzwischen herausgezogen.

Das Mischpult und Studio als Instrument

Nur ihr Plattenlabel Basic Channel, das nun ausschließlich Klassiker aus dem eigenen Katalog wiederveröffentlicht, führen die beiden noch gemeinsam.
Seit Ende der nuller Jahre hat von Oswald ein Projekt, dem er sich seitdem vornehmlich widmet: das Moritz von Oswald Trio. Die Klangforschung im Grenzbereich Dub und Techno wird bei diesem durch das Element Jazz erweitert. Zum Trio gehören ein Drummer, eine Person an den Synthesizern und Keyboards und von Oswald selbst als Mastermind, der den Sound mit Effekten und eingestreuten Beats anreichert.

„Live dubben und mixen. Das Mischpult und das Studio als Instrument bedienen“, so beschreibt er seine Aufgabe innerhalb des Trios.
Mit „Dissent“ erscheint nun die fünfte Platte der Band. Laurel Halo, eine amerikanische Elektronikmusikerin, die in Berlin lebt, ist jetzt mit an Bord.

Und Tony Allen, der vor kurzem gestorbene Pionier des Afrobeat, der zuletzt das Schlagwerk bediente, wurde durch Heinrich Köbberling ersetzt, der als Professor am Jazz Institut Berlin Schlagzeug lehrt.

Von Oswald hatte 2008 einen Schlaganfall

Darüber, wie die Platte entstand und über Musik generell, will Moritz von Oswald, 59, an diesem Mittag im Café Einstein in Charlottenburg reden. Vorher hatte sein Manager gewarnt: Über Vergangenes und Privates wolle der Musiker nicht sprechen, auch nicht über den Schlaganfall, den er vor 13 Jahren erlitten hat.

Von Oswald schweift oft ab, merkt das und fragt höflich: „Entschuldigung, habe ich gerade wieder einen Vortrag gehalten?“. Als es einmal kurz um Corona geht, bricht er ab und fordert: „Lassen Sie uns bitte wieder über Musik reden.“

„Dissent“ ist die bislang jazzigste Platte des Trios geworden. Das liegt an den Akkorden, die Laurel Halo auf E-Piano und Klavier spielt und an Chick Corea in seiner Fusion-Phase erinnern. Vor allem aber sorgt Köbberling mit seinem amtlichen Jazz-Schlagzeug-Spiel dafür, dass man beim Hören eher an Miles Davis in seiner elektrische Periode denkt als an Dub, Techno oder Dub-Techno.

Von Oswald schwärmt über den Drummer: „Wie das swingt, federt und eine Leichtigkeit verströmt.“ Kennengelernt hat von Oswald Köbberling, als er Orchesterschlagwerk in Hamburg studierte. Kurz war er Drummer in der Postpunkband Palais Schaumburg. „Irgendwann wollte ich mich in Richtung Jazz weiterentwickeln.“ Dafür nahm er Unterricht bei Köbberling.

Die 12 Tracks von „Dissent“ wurden Ende 2020 innerhalb von zwei Tagen in von Oswalds Studio aufgenommen. Man soll das Album hören, wie man ein Buch liest. Deshalb wird die Platte von Tracks gerahmt, die als Vor- und Nachwort fungieren.

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Alle anderen Stücke sind durchnummerierte „Chapter“, also Kapitel. Weiß von Oswald, dass er mit seinem Trio zu den Pionieren einer Musik gehört, die Elektronik mit mit Jazz fusioniert? „Ich kriege kaum noch gute neue Musik mit. Vieles, was ich so höre, klingt für mich zu gleichförmig.“

Dagegen, gegen die Gleichförmigkeit richtet sich der Albumtitel „Dissent“: Einspruch. Das Gespräch mäandert in alle nur erdenkliche Richtungen. Von Oswald kommt jetzt richtig ins Reden, spricht von seiner Liebe für Geräusche, die die meisten anderen nervig finden, etwa Verkehrslärm.

Geräusche seien für ihn „Reibung“, erzählt er, und Reibung sei wichtig für interessante Musik. Zum Jazz fand er bereits als Kind über die Jazzplatten seiner Eltern. Irgendwann geht es um den Dub-Pionier Lee Perry und Miles Davis.

Hier bricht er bald wieder ab und stellt fest: „Das ist mir jetzt richtig unangenehm, dass wir im Zusammenhang mit meiner Musik nun über die beiden reden. Die sind schließlich unerreicht.“ Sich mit seinen Heroen vergleichen zu wollen, dafür ist von Oswald zu bescheiden.