Übertretung bedeutet Macht

Die leeren Bühnen von Beckett, das Halbdunkel von Beichtstühlen, das Sofa, an dessen Kopfende der Analytiker sitzt, vielleicht noch ein Kneipentisch oder ein zerwühltes Bett in der Nacht – ungefähr so sehen die klassischen Szenerien intimer Beichte aus, wenn irgendetwas gesagt werden soll, das mit Scham, Schuld oder Peinlichkeit behaftet ist.

Ganz anders die Szenerie in Katharina Volckmers Debütroman „Der Termin“. In einer Suada von Bernhardschem Furor, blendend gemacht, verschlungen, verdreht, mäandernd, wiederholend, lässt sie den Redefluss einer Ich-Erzählerin auf das Haupt eines Londoner Arztes niederprasseln.

Man hält Dr. Seligman zunächst für einen Psychiater, dann für einen Gynäkologen. Schließlich sitzt er mit gesenktem Kopf vor gespreizten Beinen. Aber er ist Chirurg, ein plastischer Chirurg. Die erzählende Person schildert ihm mit feuriger Inbrunst, warum sie ihre weiblichen Genitalien loswerden möchte und endlich einen „Schwanz“ haben will.

Die Situation hat Züge eines grotesken Zwei-Personen-Stücks. Dabei sind die theatralischen Effekte geschickt in Prosa übersetzt. Die ungleiche Gesprächssituation, der schweigende Arzt und die monologisierende Patientin, die ein Patient werden will, bleibt den ganzen Roman über erhalten.

„Der Termin“ artikuliert seine Themen mit erheblichem Druck. Und die sind schraubstockartig miteinander verzahnt. Es geht nicht nur um die Erzählung, „wie es ist, wenn ein Junge im Körper eines Mädchens feststeckt und Jungs ficken will“, nicht nur um Sex in öffentlichen Toiletten, um den Hass auf den weiblichen Körper und auf die Dummheit von Frauen, die sich, ausstaffiert wie Buttercreme-Törtchen, mit romantischem Geschwätz zum Traualtar führen lassen.

Hier wird vieles vermischt

Der Roman verknüpft das Thema der Transition mit dem Topos der deutschen Schuld. Das erzählende Ich will all das loswerden: das Deutschsein, die historische Verantwortung für die Shoah und am besten auch gleich noch das schlechte Essen und das „grauenhafte Brot“, auf das die dämlichen Deutschen immer so stolz sind.

Hier wird vieles vermischt. Und es ist klar, dass das nicht nur die inhaltliche Strategie des Romans ist, sondern auch ein theoretisches Konzept. Trennungen und Unterscheidungen erzeugen schließlich Ordnungsmuster. Warum ist das Geschlecht immer das erste Kriterium, auf das alle achten, fragt der Roman mit Recht. Aber natürlich braucht er diese Ordnungen auch – um sie zu übertreten. Daraus entsteht seine hohe Energie. Übertretung bedeutet Macht.

Diese Entdeckung ist der pochende Puls des Romans. Und so ist es nur folgerichtig, dass er gleich mit einem Bekenntnis beginnt. Es sei vielleicht nicht der richtige Moment, überlegt das erzählende Ich, während der Arzt, wie wir später begreifen werden, seine Genitalien untersucht, aber es müsse gerade daran denken, wie es einmal geträumt habe, „ich wäre Hitler“.

Und es stellt sich vor, dass sich auch Hitler „in seinem Körper nicht wohlfühlt“, auch wenn es „natürlich trotzdem inakzeptabel“ ist, „sämtliche Angehörigen eines Kulturkreises auszulöschen“. Die Traurigkeit des Traums sei sofort wieder spürbar, „die Traurigkeit darüber, dass ich nie einer von diesen blonden deutschen Boys sein würde“.

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Katharina Volckmer wurde 1987 in Deutschland geboren. Sie lebt in London, hat über Jakob Wassermann promoviert und arbeitet in einer Literaturagentur. Ihren Roman hat sie auf Englisch geschrieben. Eine Art Umgehungsstraße für das Unbewusste, so kann man sich das vielleicht vorstellen.

In einem Interview mit dem „Guardian“ betonte Volckmer, dass sie „The Appointment“ niemals auf Deutsch hätte schreiben können. Dabei sind viele Elemente reinster Freudianismus. Etwa wenn das Mädchen es kaum ertragen kann, mit der Mutter in der „Badeanstalt“ eine Umkleidekabine teilen zu müssen, ihr weiblicher Körper, ihr Geruch, die Kaiserschnitt-Narbe auf ihrem Bauch, alles löst seinen Widerwillen aus.

Und erst recht die Vorstellung, selbst in diesem verunstalteten Bauch gewesen zu sein, mitschuldig an der Narbe, und am Ende selbst einen solchen Mutter-Körper zu haben. Und da gibt es auch einen verstorbenen Bruder, einen gewissen Emil, den sie ersetzen soll.

Es geht auch um Angst und Einsamkeit

Als sie auf der Herrentoilette eines schäbigen Pubs ihren Liebhaber kennenlernt, ein verheirateter Künstler, zu allen Spielen bereit, ist es nicht nur sein Phallus, den sie begehrt. Es ist auch die Tatsache, dass er weinen kann wie ein Kind.

„Der Termin“ erzählt von Angst und Einsamkeit und fügt all diese Elemente zu einem fluiden Bewusstseinsstrom zusammen. Dennoch sollte man den Roman nicht für ein persönliches Bekenntnis halten – und deshalb auch nicht mit Samthandschuhen anfassen. Es handelt sich vielmehr um einen literarischen Ritt auf eingespielten Provokationsdiskursen.

Neben Philip Roth, den Volckmer im Interview nennt, hat sie offenbar auch von Jonathan Littell und Michel Houellebecq gelernt. Und natürlich von Jean Genet. Früher habe sie geglaubt, „dass man den Holocaust nur dadurch wirklich überwinden kann, dass man einen Juden liebt“, erklärt die erzählende Person ihrem Arzt. Und sie macht ihm klar, warum sie einen jüdischen Chirurgen ausgesucht hat, um ihren Penis zu formen: „Sie geben einer deutschen Frau einen jüdischen Schwanz.“

“Ein jüdischer Schwanz für eine deutsche Frau”

Dass diese Idee nur als Groteske funktioniert, liegt auf der Hand. Denn wie sollte das funktionieren: als Transsubstantiation der Religionszugehörigkeit aus dem Geist der plastischen Chirurgie?
Mit dieser absurden Idee dramatisiert Katharina Volckmer den versteckten Essentialismus der Transitions-Chirurgie.

Sie nährt den Glauben, mit einem anderen Geschlechtsorgan seien die Probleme des Individuums gelöst. Der Bruch zwischen dem, was als radikale Ambivalenz der Gender-Diversität theoretisiert werden kann und dem Begehren nach dem Besitz eines jüdischen Phallus zerstört die Dignität all dessen, wovon dieser Diskurs eigentlich zehrt.

Schließlich ist es die Aneignung, die in postkolonialer Perspektive rückgängig gemacht werden muss, vom misogynen Impuls dieses Phantasmas ganz zu schweigen.

Dass der von Gunnar Cynybulk neu gegründete Kanon Verlag, dessen Emblem ein turnender Affe ist, mit diesem wagemutigen Buch als Spitzentitel startet, ist ein gutes Zeichen. Man kann hoffen, Katharina Volckmers Roman zu einer breiten Diskussion anregt. Ohne Scheuklappen – und vor allem: ohne Skandal. Denn das billigste Mittel der Aufmerksamkeitsökonomie hat dieser radikale Debütroman so wenig nötig wie sein deutscher Verlag.