Berlinale-Eröffnungsfilm „She came to me“: Neustart mit einer Komödie aus New York
Die afrikanische Silberameise würde auch der nachhaltigen Berlinale gut zu Gesicht stehen. Ihre reflektierende Behaarung, die für den silbrigen Glanz sorgt, dient in der Gluthitze der Sahara als natürlicher Schutz vor den widrigen klimatischen Bedingungen am Äquator. Praktischer Nebeneffekt: Der haarige Schutzschild senkt die Körpertemperatur der Insekten.
Dieser kurze Ausflug in die Entomologie hat mit der Berlinale insofern zu tun, als er dem diesjährigen Eröffnungsfilm „She Came to Me“ eine Theorie leiht, die Rebecca Millers dysfunktionale Familienkomödie mit einer hinreißenden Schlusseinstellung krönt. Die kuriose Schicksalsgemeinschaft tuckert auf einer rostigen Barkasse einer besseren Zukunft entgegen, statt Dieselöl sorgen vom Panzer der Silberameise inspirierte Solarpaneele für den klimaneutralen Antrieb.
Eine Komödie über eine dysfunktionale Familie macht den Anfang
Da ist sie also, die neue Berlinale – versteht man den künstlerischen Leiter Carlo Chatrian richtig, der in den vergangenen Wochen immer wieder von einem „Neustart“ sprach, mit voll ausgelasteten Sälen und einem funktionierenden Kinomarkt. Dem Eröffnungsfilm nach zu urteilen, bleibt jedoch auch im vierten Jahr der Doppelspitze um Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek zunächst vieles beim Alten.
„She Came to Me“ ist die Sorte von Hollywoodkino, die dem Festival zum Auftakt ein paar große Namen beschert, welche die glamoursüchtigen Berliner:innen zufriedenstellt. (Oder könnte es doch sein, dass es immer nur die Kulturkritik ist, die über zu wenig Stars auf dem roten Teppich nörgelt?)
Peter Dinklage spielt in „She Came to Me“ den Opernkomponisten Steven in einer Schaffenskrise, Anna Hathaway seine Frau Patricia, eine äußerlich funktionierende, aber hochgradig neurotische Therapeutin, und Marisa Tomei eine Schleppkahnkapitänin mit einer Romantiksucht, die den Objekten ihrer Begierde – in diesem Fall Dinklages völlig überfordertem Komponisten – offensiv nachstellt. Julian (Evan Ellison), der 18-jährige Sohn des Ehepaares, ist mit der minderjährigen Tochter der polnischen Putzfrau Magdalena (Joanna Kulig) zusammen, was für Irritationen sorgt, als den Eltern ein paar verspielte Nacktfotos der Jugendlichen in die Hände fallen.
Auf dem Papier liest sich das allzu bemüht, aber Rebecca Miller, die schon Greta Gerwig in „Maggies Plan“ als herrlich überdrehtes Neurosenbündel inszenierte, kann sich auf die Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller ihrer Romantic Comedy verlassen, die gemessen an den Konventionen des Genres immer ein wenig neben der Spur läuft.
Auch auf Filmfestivals zählt der erste Eindruck, und die Berlinale ist in der Vergangenheit schon öfters mit dem falschen Bein in den Betrieb gestartet. Insofern kann man Millers Film als gelungene Pflichtübung festhalten, die die Fallhöhe noch nicht zu hoch ansetzt, aber schon mal eine optimistische Botschaft an die Filmwelt sendet.
Beim Festival drückt es in diesem Jahr an ganz anderer Stelle, von den akuten Sorgen würden auch Solarpaneele auf dem Berlinale Palast kaum ablenken. Der Energiekrise begegnet die Berlinale stattdessen mit einer Erhöhung der Ticketpreise um zwei Euro, trotz zusätzlicher 2,2 Millionen Euro aus dem Haushalt von Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Für Unmut hat das bereits gesorgt. Es wird sich zeigen, ob man so die Menschen zurück auf ein Publikumsfestival lockt.
Dass Claudia Roth am Donnerstagvormittag auch noch Grußworte an die Filmbranche richtete, ist in einem Jahrgang, der erstmals mit fünf deutschen Filmen im Wettbewerb aufwartet (ganz zu schweigen von dem internationalen Erfolg der Netflix-Produktion „Im Westen nichts Neues“), keine Überraschung. Vor einem Jahr debütierte Roth in ihrer neuen Rolle als Schirmherrin des deutschen Films mit großen Versprechen auf der Berlinale – die sich zwölf Monate später wie Durchhalteparolen lesen.
Die Herausforderung eines neuen Filmfördergesetzes, dessen Novellierung schon zwei Mal verschoben wurde, hat sie von ihrer Vorgängerin Monika Grütters geerbt. Die Probleme des deutschen Förderkinos sind weitreichend diskutiert, die Partikularinteressen zwischen Filmkunst und Wirtschaft, Produzenten, Kinobetreibern und Verleihern, die Probleme der unübersichtlichen Förderbürokratie zwischen Bund und Ländern sind bekannt.
Claudia Roth hält eine Grundsatzrede über die Zukunft der Filmförderung
Dieser Ausgangslage fügte Roths als Grundsatzrede angekündigte Erklärung auf dem Produzententag, der traditionell zur Eröffnung der Berlinale stattfindet, keine neuen Erkenntnisse hinzu. Außer, dass auch sie noch einmal bekräftigte, man habe die Probleme der deutschen Filmförderung, und damit die des deutschen Kinos, nun aber wirklich verstanden.
Ihre acht Reformansätze, darunter die Gründung einer Filmagentur, die die Fördermaßnahmen des Bundes bündelt, neue steuerliche Anreizmodelle, die Inpflichtnahme der globalen Streamingdienste, in die hiesige Infrastruktur zu re-investieren, der zweifelhafte Einfluss der öffentlich-rechtlichen Sender sowie der Regionalfürsten mit ihren zerklüfteten Länderförderungen dürften sich schnell wieder zerschlagen, wenn es um konkrete Lösungsvorschläge geht. Ein Grund dafür ist das absurde Szenario, dass es dem deutschen Kino an Geld (und Publikum) mangelt, viele andere Parteien aber gut an ihm verdienen.
Die Kultur soll nicht der Wirtschaftlichkeit untergeordnet werden.
Kulturstaatsministerin Claudia Roth auf dem Produzententag
Mit der Berlinale hat dieses Problem unmittelbar zu tun, was sich besonders in diesem Jahr zeigt. Im Tagesspiegel-Interview merkte Chatrian vor zwei Wochen an, dass es im einen Jahr heiße, die Berlinale zeige zu wenig deutsche Filme im Wettbewerb, und im nächsten beschwere man sich dann über zu viele. Dies ist aber kein Qualitätsproblem: Die Filme von Margarete von Trotta, Emily Atef, Christoph Hochhäusler und Angela Schanelec liefen früher schon in Venedig, Cannes und Locarno, sie gehören fraglos in den Wettbewerb. Es zeichnet sich jedoch ab, dass die Berlinale allmählich die Funktion eines Biotops für das angeschlagene deutsche Kino übernimmt.
Kristen Stewart und Golshifteh Farahani überstrahlen den Wettbewerb
Auf anderen Festivals spielten deutsche Filme zuletzt keine nennenswerte Rolle mehr. Im Licht der Auszeichnungen beim Filmpreis und den Erfolgen auf der Berlinale könnte sich das deutsche Kino künftig natürlich weiterhin sonnen. Beide werden, das ist die Pointe, maßgeblich aus dem Haushalt der Kulturstaatsministerin finanziert. Die Gefahr besteht allerdings, dass sich die hiesige Filmbranche in dieser Behaglichkeit einrichtet und international weiter isoliert. Auch für die Strahlkraft der Berlinale, dem wichtigsten Schaufenster des deutschen Films, wäre das fatal.
Ein Nebeneffekt dieser Entwicklung ist, dass die Berlinale-Jury mit den beiden Stars Kristen Stewart und Golshifteh Farahani den Wettbewerb in diesem Jahr rein nominell überstrahlt. Die Regisseurinnen und Regisseure in der Bären-Konkurrenz, etwa die Amerikanerin Celine Song („Past Lives“, der seine Weltpremiere bereits auf dem Sundance hatte) oder Lila Avilés („Totem“) muss man nicht unbedingt kennen; mit dem Nouvell-Vague-Regisseur Philippe Garrel ist immerhin ein Altmeister vertreten. Möchte man Chatrian, der sich als Mentor „seiner“ Filme versteht, hier eine Strategie unterstellen, dann die, dass auf diese Weise Druck von den kleinen Filmen genommen wird. Allerdings gleicht der diesjährige Wettbewerb, klammert man die deutschen Filme aus, eher einer Wundertüte.
Der letzte Film im Berlinale-Wettbewerb, der danach eine internationale Erfolgsgeschichte schrieb – ob bei den Oscars oder beim Europäischen Filmpreis –, liegt schon eine Weile zurück. Chatrian muss sich fragen lassen, auf welchen Kinomarkt er sein Festival heute noch ausrichtet. Die wenigsten Filme aus dem vergangenen Wettbewerb haben im Kino großen Eindruck hinterlassen; „Robe of Gems“, immerhin der Gewinnerfilm des Jury-Preises 2022, startet während der Berlinale direkt auf der Streamingplattform Mubi. Man kann der Berlinale zum Neustart nur alles Gute wünschen.
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