Polizeigewalt war keine Lösung
Es ist kurz vor Mitternacht am 21. Juni 1988, als ein Hooligan-Mob von der Reeperbahn die Davidstraße hochläuft. Die meisten der rund 250 Männer stammen aus der HSV-Szene, es sind aber auch Schalker, Dortmunder und Berliner dabei. Einige von ihnen haben eine Woche zuvor englische Fans durch die Düsseldorfer Altstadt gejagt, nun wollen sie die Bewohner der Häuser in der Hamburger Hafenstraße angreifen.
Sie skandieren „Rotfront verrecke!“ und „Wir räumen die Häuser!“ Augenzeugen erzählen heute, dass eine Hundertschaft der Polizei ihnen den Weg freigemacht habe. Die besetzten Häuser in der Hamburger Hafenstraße und der Bernhard-Nocht-Straße sind für die linke Szene ein selbstverwalteter Freiraum; für den Senat, die Polizei und Neonazis sind sie eine Provokation, ein rechtsfreier Raum, den sie brutal bekämpfen. Womöglich ist das Polizeispalier in der Davidstraße ein Mythos, erwiesen ist aber, dass die Beamten in jenen Abendstunden nach dem EM-Halbfinale zwischen Holland und Deutschland viel zu spät in die Randale eingreifen. Ein Polizeisprecher wird später behaupten, man sei überrascht worden. Dabei ist der Angriff ein offenes Geheimnis. Hooligans haben im Volksparkstadion sogar Flyer für den Sturm auf die Häuser verteilt. „Die ganze Stadt wusste es!“, sagt ein Hafenstraßenbewohner.
Schon bei den vorherigen Europameisterschaften war es zu Ausschreitungen gekommen. 1980 prügelten sich englische Fans durch die spärlich gefüllten italienischen Stadien, 1984 fielen rechtsextreme Deutsche mit dem Schlachtruf „Frankreichüberfall“ in Straßburg ein, und die Böhsen Onkelz schrieben mit „Frankreich 84“ den passenden Soundtrack: „Lass uns unsere Fahne hissen, unseren Gegnern vor die Füße pissen.“ Die EM 1988 aber ist ein Erweckungserlebnis für den deutschen Hooliganismus – und zugleich ein Wendepunkt im Umgang mit Fußballanhängern. Sie erzählt viel über den beschwerlichen Anfang der Fanarbeit, wie wir sie heute kennen.
„Fanaktivisten hatten in den Achtzigern keinen guten Ruf und keine Lobby. Aus Sicht vieler Vereine und des Verbandes waren wir linke Spinner“, sagt Thomas Schneider, der seit 2006 die DFL-Abteilung Fanangelegenheiten leitet und in den 1980ern am Aufbau der Fanprojekte beteiligt war. Er fuhr mit Fans zu Auswärtsspielen durch Europa, er sprach mit Bomberjacken-Skins und Kutten-Rockern, er vermittelte zwischen Werder- und HSV-Fans auf gemeinsamen Bildungsreisen. Er tauchte ein in Milieus und Subkulturen, er kannte sich aus.
Massenpanik nach Ausschreitungen
Den DFB interessiert das damals allerdings nicht, finanzielle Unterstützung gibt es für Fanarbeit kaum. Die wenigen Fanprojekte in Deutschland arbeiten am Existenzminimum, die Mitarbeiter, ob Soziologen, Pädagogen, oder Sozialarbeiter, sind auf befristeten ABM-Stellen tätig. 1984, zwei Jahre nach dem gewaltsamen Tod des Werder-Fans Adrian Maleika, findet ein Treffen zwischen Fanarbeitern und Bundesligamanagern statt. Es herrscht blankes Misstrauen. „Ihr seid doch arbeitslose Sozialpädagogen, die sich auf Kosten der Vereine einen Job organisieren wollen“, sagt Uli Hoeneß.
Selbst nach dem 29. Mai 1985 ändert sich wenig an der Ignoranz der Funktionäre. An jenem Tag spielen der FC Liverpool und Juventus Turin im Brüsseler Heysel-Stadion das Europapokalfinale aus. Nach Ausschreitungen kommt es zu einer Massenpanik, 39 Menschen sterben, Hunderte werden verletzt. „Wir haben viel in den Medien über diese Katastrophe gesprochen“, sagt Schneider. „Wo kommen die Hools her? Warum prügeln sie sich?“ Hermann Neuberger, damals DFB-Präsident, hat vor der EM 1988 nur eine stumpfe Antwort darauf: „Wenn Hooligans kommen, muss der Knüppel raus.“
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Die Fanarbeiter, angeleitet vom Frankfurter Soziologen Dieter Bott, rufen für das Turnier in Deutschland ein ganz anderes Motto aus. Bott nennt es „Kultur statt Knüppel“. Konzerte, Spiele, Theater, ein Rahmenprogramm für junge Fans aus England, Holland oder Deutschland, also ein Vorläufer von „Die Welt zu Gast bei Freunden“ bei der WM 2006. „Bringt doch eure Schrottbands mit, dann machen wir hier ein Festival“, schreibt Bott eine Einladung an die Engländer. Heute sagt er: „Wir haben gegen den Polizeigeist von Neuberger mit dem Geist der Gastfreundschaft interveniert.“
Mit wenig Geld und viel Pioniergeist bauen die Fanarbeiter in Stuttgart und Hannover Infostände und Zeltlager auf, am Maschsee kampieren 500 Iren und 2500 Dänen, die Krawalle halten sich in Grenzen. Der DFB und die Polizei präsentieren derweil stolz ein modernes Überwachungssystem. Die ausländischen Fans werden ab der Grenze beobachtet, eine internationale Datenbank gibt Hinweise auf potenzielle Gewalttäter. „Gewünscht ist der gläserne Fan“, schreibt der „Spiegel“. Und Günther Rathgeb, Leiter der Stuttgarter Schutzpolizei, verkündet vor dem Turnierstart: „Wo auch immer die Fans hingehen, wir werden schon da sein.“ Von jedem der erwarteten 883.000 Zuschauer der insgesamt 15 Partien wisse man „alles“.
Hooligans geben Hinweise auf Aktionen
Ein Irrtum, wie sich bald herausstellt. Am Abend des 14. Juni 1988, direkt nach dem 2:0- Sieg der DFB-Elf gegen Dänemark in Gelsenkirchen, fahren rund 300 deutsche Hooligans nach Düsseldorf. Am Hauptbahnhof bewaffnen sie sich mit Steinen und Schotter aus dem Gleisbett und fallen über die Engländer her. Die BBC vermeldet umgehend, es habe in der Altstadt nicht eine Straße gegeben, „die nicht voller zersplittertem Glas war“. Als am Abend die Partie zwischen Holland und England im Rheinstadion stattfindet, marschieren 2800 Polizisten auf, aber da ist der deutsche Sicherheitsapparat längst bloßgestellt.
Öffentlich räumen die Beamten, Funktionäre und Politiker ihre Ratlosigkeit ein. Düsseldorfs Innenminister Herbert Schnoor sagt, die gewaltbereiten Fans seien kaum noch zu erkennen, sie hätten ihr Erscheinungsbild geändert und treten „betont bürgerlich und unauffällig“ auf. Die Polizisten sind irritiert darüber, dass Hooligans von der Dortmunder „Borussenfront“ und der Schalker „Gelsenszene“ gemeinsam und nicht gegeneinander gekämpft hätten. Und hat die internationale Presse nicht vor den Engländern gewarnt, vor dem „Zoo der wilden Tiere“, wie die „Times“ sie nennt? Warum ticken die Deutschen jetzt so aus?
Vor dem Turnier haben nicht nur Fanarbeiter über den Wandel der Fußballgewalt und mögliche Auswege gesprochen, auch deutsche Hooligans selbst geben Hinweise auf Aktionen. Ihr großer Traum sei es, den Engländern den Titel als Europas gefürchtetste Klopper streitig zu machen, schreiben sie in verschiedenen Fanzines. Nach einer Randale bei einem Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und England im September 1987 jubelt ein Autor der Gladbacher „Sturmtruppen-News“: „Uns ist die Premiere geglückt. Wenn wir so zusammenhalten, dann brauchen wir keinen Gegner zu fürchten.“
Es ist ein Satz, der einiges über die neue Verbundenheit verrät. Unter englischen Hooligans ist es schon länger üblich, die Vereinsfeindschaften auszublenden, wenn die Nationalmannschaft spielt. Für die EM in Deutschland verkünden West-Ham-Hools an der Seite von Millwall-Kloppern die Parole „Invasion of Germany“. Das imponiert den Deutschen, die Nation soll nun ganz oben stehen. Der „Fan-Treff“, die damals bekannteste Hool-Postille, erklärt vor Turnierbeginn: „Dortmunder, Kölner, Frankfurter, Nürnberger, Münchener, Hamburger – vergnügt euch gemeinsam, nicht jeder für sich oder gar gegeneinander.“ Das Vorrundenspiel zwischen England und Holland in Düsseldorf wird als „Spiel der Spiele“ angekündigt: „Es wird funken ohne Ende. Ich kann nur sagen: Viel Spaß, Düsseldorfer Polizei!”
Fußball galt unter Linken als verpönt
Aber auch an anderen Spielorten soll es krachen. Die Hools prahlen sogar in den großen Medien: „Wir haben mit einigen Bullen gesprochen, ob wir nicht mal an den Landungsbrücken aufräumen sollten. Für das Halbfinale am 21. Juni haben wir das ins Auge gefasst“, tönt etwa ein HSV-Hool im „Stern“.Die Häuser in der Hamburger Hafenstraße und der Bernhard-Nocht-Straße, unweit der Landungsbrücken, sind 1982 von linken Aktivisten besetzt und im Laufe der Jahre zu einem symbolträchtigen Ort geworden. Die Immobilien liegen in sogenannter Filet-Lage, unverbaubarer Blick auf die Elbe, die Docks, die Schiffe. Der Hamburger Senat und die Polizei gehen seit längerer Zeit massiv gegen die neuen Bewohner vor, die wiederum protestieren gegen eine Stadtpolitik der Verdrängung und Aufwertung.
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Fußball spielt für die meisten Bewohner zu Beginn kaum eine Rolle, er gilt Anfang der Achtziger unter vielen Linken als verpönt. Dann aber steigt der FC St. Pauli auf, und das Millerntor wird zu einem Ort, an dem ein anderer Fußball möglich scheint – von links, von unten. Einer der Bewohner, Doc Mabuse, bringt eine Totenkopfflagge ins Stadion, ein anderer, Volker Ippig, hütet bei St. Pauli das Tor. Auch Thomas (Name von der Redaktion geändert) geht ans Millerntor.
Er hat im Frühjahr 1983, drei Wochen vor der Abiturprüfung, die Schule abgebrochen und ist aus einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein in die Hafenstraße gezogen. „Hab dort eine sehr lange und intensive Jugend erlebt“, sagt er. Körperliche Auseinandersetzungen seien üblich gewesen. Die Polizei stürmt Wohnungen, mauert Türen zu, prügelt auf Bewohner ein. „Und irgendwann wurde es auch nach HSV-Spielen ungemütlich, vor allem am nahe gelegenen Hans-Albers-Platz“, sagt Thomas.
Mitschuld des Senats
In jenen Jahren entsteht beim HSV eine neue Hooliganszene, die sich von dem bis dahin dominierenden Fanklub „Die Löwen“ unterscheidet. Blousontrainingsjacken statt Kutten, Casuals statt Rocker. St. Pauli ist oft ihre Gewaltbühne. 1986, nach einem Spiel gegen die Bayern, fliegen Übungshandgranaten durch die Silbersackstraße, und nach einem Europapokalspiel gegen Ajax im Herbst 1987 läuft ein Hool mit einer Machete über den Kiez. Die „Hamburg Hooligans“, viele aus Randbezirken wie Lurup und Rahlstedt, beobachten die Hafenstraße mit Hass und Bewunderung. Die politische Idee lehnen sie ab, Entschlossenheit und Militanz der Bewohner beeindrucken sie. Die machen sich gerade, wie es im Jargon heißt. Im „Stern“-Interview aus dem Juni 1988 sagt ein Hool über die Hafenstraße: „Dass die sich durchsetzen können gegen den Staat und so, das finde ich voll okay.“
Auch deshalb stellen die Bewohner ab 1986 Nachtwachen auf, hören den Polizeifunk ab und haben im „Onkel Otto“, einer Kneipe neben den Häusern, ein Lager mit leeren Flaschen errichtet. Sie sind gewappnet, auch an jenem Abend, als die Hooligans unter Deutschland-Gegröle von der Davidstraße in die Bernhard-Nocht-Straße einbiegen. Steine und Flaschen fliegen. Der Kampf wogt hin und her, Passanten drücken sich in Hauseingänge, und mitten im Hagel der Wurfgeschosse taumelt ein orange gekleideter Mann orientierungslos umher. „Holland! Holland?“, ruft er verzweifelt, bis er von den Hafenstraßenbewohnern in Schutz genommen wird.
Es gibt zahlreiche Verletzte, ein Bewohner verliert ein Auge, ein Polizist wird von einem Molotowcocktail getroffen, er steht kurz in Flammen. Und später im Hafenkrankenhaus pulen die Ärzte kleine Stahlkugeln aus den Oberschenkeln einiger Hooligans, Munition für selbstgebaute Zwillen. Die „taz“ schreibt am nächsten Tag: „Eine Mitschuld an der Randale trifft den Senat der Hansestadt. Auf öffentlichen Druck und erst kurz vor Beginn der EM wurden dem Fanprojekt magere 25.000 Mark zur Verfügung gestellt.“
Hooligans marodieren durch die Innenstadt
Es könnte ein Fazit des Turniers sein. Zwei Wochen, in denen hunderttausende Fans abseits der Stadien sich selbst überlassen sind. Zwei Wochen, die beweisen, dass Hilfe von Fanexperten dringend benötigt wird. Doch auch nach dem gewaltgeschwängerten Turnier rennen die Fanarbeiter keine offenen Türen beim DFB ein. Günter Bahr, Leiter der Polizei-Führungsakademie in Münster, lobt immerhin die Fanprojekte: „Als Polizei haben wir ein großes Interesse daran, dass sie salonfähig gemacht werden.“ Und der DFB unterstützt die Fanarbeiter endlich auch bei ihrem Vorhaben, die deutschen Anhänger zur EM nach Schweden zu begleiten. Er zahlt sogar Unterkunft und Anreise. Das Motto der neugegründeten Bundesarbeitsgemeinschaft der Fanprojekte lautet: „Förderung der Gastfreundschaft und eine Deeskalation durch intensive Fanbetreuung vor Ort“.
„Es war eine Aufbruchszeit“, sagt Michael Gabriel, der damals für das Frankfurter Fanprojekt arbeitet und bei der folgenden EM in Schweden mit anderen Sozialarbeitern eine Anlaufstelle für Fans aufbaut. Ein „Fankontaktbüro“, also ein Vorläufer der mobilen Fanbotschaften, wie sie heute bei jedem großen Turnier zu finden sind. Gabriel und seine Mitstreiter wohnen in einem spartanisch eingerichteten Ferienhaus in Norrköping, arbeiten an prähistorischen Computern und fahren in einem alten VW-Bus durch die Gegend. Sie sind im dauerhaften Dialog mit den deutschen Fans. Sie helfen bei Ticketfragen, produzieren mit Fans das Magazin „Schwedenfahrer“, vermitteln bei juristischen Problemen und sind Ansprechpartner für Angehörige von inhaftierten Fans.
Denn vor und nach dem Spiel zwischen Holland und Deutschland in Göteborg kracht es abermals gewaltig, das können auch die Fanarbeiter nicht verhindern. Hooligans marodieren durch die Innenstadt, die Medien sind sich schnell einig: Die Deutschen sind schuld. Einige Hools sitzen danach für mehrere Tage hinter schwedischen Gardinen – ohne Anklage, ohne Beweise. Die Fanarbeiter haben viel zu tun. „Zurück im Ligaalltag in Deutschland haben wir vor allem zu jungen Hooligans den Kontakt gesucht“, sagt Gabriel. „Wir haben mit ihnen über die Konsequenzen ihres Tuns gesprochen – und dann versucht, ihnen eine andere, gewaltlose Fankultur aufzuzeigen.“
In den kommenden Jahren tut sich viel, Fans schließen sich in Initiativen zusammen, die „Koordinationsstelle Fanprojekte“ entsteht, und Gabriel und seine Mitstreiter vernetzen sich international. Auf den Turnieren lernen sie Fanarbeiter aus England kennen. Bald gründet sich mit „Football Supporters Europe“ die größte Fanorganisation Europas und der wichtigste Ansprechpartner der Uefa in Fanfragen. Es ist ein langer Prozess mit Höhen und Tiefen, der bis heute andauert.
Und immerhin, eines Tages wagt sich sogar Uefa-Verbandspräsident Michel Platini aus der Deckung: „Die Fans sind die Seele des Spiels, und ich begrüße die Tatsache, dass die Uefa und die Fans zusammenarbeiten und sich gegenseitig darüber informieren, was gerade gemacht wird.“ Platini ist schon längst wieder zurückgetreten und natürlich ist sein Bekenntnis ein klassischer Schablonensatz. Aber vor 33 Jahren, im Sommer 1988, wäre selbst der reines Wunschdenken gewesen.