Comicreportage aus der Ukraine: Wenn der Krieg in die Bilder sickert
Butscha im Mai 2022: Die ukrainische Violinistin Tatiana Monko kehrt mit ihrer Familie in ihr Wohnhaus zurück, das von den russischen Besatzern verwüstet und geplündert wurde. Doch mitten in der Zerstörung steht das Klavier, an dem ihre zehnjährige Tochter immer geübt hat, scheinbar unberührt. Als das Mädchen darauf zu spielen versucht, merkt sie, dass einige Tasten nicht funktionieren. Das Militär untersucht das Klavier – eine Granate war im Hammerwerk versteckt.
Es ist nur eine von vielen abgründigen Geschichten aus dem Krieg in der Ukraine, die der italienische Zeichner Igort in seinem jüngsten Comic „Berichte aus der Ukraine 2 – Tagebuch einer Invasion“ schildert.
Der Terror der russischen Armee, der Mut der einfachen Bevölkerung, die Angst während der Bombardierungen und die Entbehrungen der Flucht – schlaglichtartig versammelt Igort in seinem Buch erschütternde und bemerkenswerte Begebenheiten aus dem Alltag des Krieges, so als würde er versuchen, die verstreuten Splitter einer Granate wieder zusammenzufügen.
Es ist nicht sein erster Comic über die Ukraine: Bereits 2011, als sich im Westen kaum jemand für die ehemalige Sowjetrepublik interessierte, erschien mit „Berichte aus der Ukraine – Erinnerungen an die Zeit der UdSSR“ eine Comic-Reportage, die die schmerzhafte Gegenwart und Vergangenheit des Landes offenlegte.
Zuvor hatte Igort zwei Jahre lang in der Ukraine gelebt und dort zahlreiche Freundschaften und Kontakte geknüpft, die bis heute bestehen. Sie waren es auch, die ihm viele der Geschichten zugetragen haben, die in dem gezeichneten Kriegstagebuch festgehalten sind.
Kein Ruhm, nur Elend
Der Zeichner, der eigentlich Igor Tuveri heißt, ist der russischen Kultur eng verbunden: „Ich bin mit den Erzählungen der großen Schriftsteller im Ohr aufgewachsen, die meine Großmutter mir vorlas, noch bevor ich selbst lesen konnte.“ Dass das Land, das seinem Herzen so nahe ist, nun die Ukraine überfällt, die es nicht minder ist, ist für Igort unerträglich.
„Ein Krieg ist immer nur ein schmutziger Krieg. Keine Helden, kein Ruhm, nur Elend.“ Diese einleitenden Worte setzten den Ton für das Buch: Igort hält nichts von Verklärungen oder Heldengeschichten, er bleibt stets nah an den einfachen Menschen, die schlicht ums Überleben kämpfen.
Es geht um die eingekesselten Bewohnerinnen und Bewohner in Mariupol, die dazu gezwungen sind, Schnee zu schmelzen oder das Wasser aus Heizkörpern zu trinken. Es geht um einen ukrainischen Lokführer, der Angst vor den eigenen Soldaten hat, weil er fürchtet, sie könnten ihn versehentlich für einen Saboteur halten und erschießen. Es geht um Dörfer, die mangels Bargeld wieder zur Tauschwirtschaft zurückkehren. Es geht um russische Soldaten, die ihren Armee-Dienst quittieren und anschließend hinterrücks ermordet werden.
Dunkle Farben dominieren
Es ist ein düsterer Comic, viele Seiten sind in dunklen Farben gehalten. Nachts kann in vielen Städten kein Licht gemacht werden, entweder weil kein Strom da ist oder verdunkelt werden muss. Igort holt ein klein wenig dieser Kriegsrealität in seine Bilder, indem er sie größtenteils schwarz zeichnet und nur schemenhafte Umrisse von Menschen, Räumen oder Gebäuden darin erkennen lässt.
Wie für Igort typisch, wechselt er dabei immer wieder von präzisem Realismus bis hin zu expressionistischer Abstraktion. Szenen wie die aus Butscha sind mit viel Sensibilität festgehalten und strahlen eine bedrückende Stille aus.
Igort erinnert auch an den Krieg in Tschetschenien, in dem Putin ähnlich hart und grausam vorgegangen war. Die dortigen Verbrechen hatte er 2012 in „Berichte aus Russland – Der vergessene Krieg im Kaukasus“ verarbeitet – ein albtraumhafter Bericht, nach dessen Lektüre niemand von der Brutalität der russischen Armee in der Ukraine überrascht sein konnte.
Doch 2014, als der Krieg im Donbass begann, herrschte Desinteresse: „Die Welt wusste von Anfang an Bescheid, doch der Westen hat weggesehen“, so Igort. Seine Comics tun dies nicht: Sie schauen hin, dahin, wo es wehtut. Dass Igort dies gleichzeitig mit großer Zeichenkunst verbindet, macht „Berichte aus der Ukraine 2“ nicht nur zu einer intensiven Innenansicht des Krieges, sondern auch zu einer der besten Comic-Reportagen des Jahres.
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