Der Künstler, der Schwieriges einfach aussehen lässt
Es gibt Fußballer, die selbst den vielen Gelegenheitszuschauern bei einer Europameisterschaft sofort auffallen. Spieler, die durch Schnelligkeit, Tricks, Tore oder spektakuläre Grätschen begeistern. Und es gibt Fußballer wie Jorge Luiz Frello Filho, geboren im südbrasilianischen Imbituba, seit 2012 italienischer Staatsbürger und besser gekannt als Jorginho. „Sein Spiel hat nichts Pyrotechnisches“, schrieb das Fußballmagazin „Rivista Undici“ über den Mittelfeldregisseur der italienischen Nationalmannschaft. „Die Schönheit seiner Aktionen liegt in dem Zusammenspiel aus ihrer Komplexität und der Leichtigkeit, mit der sie ausgeführt werden.“
Jorginho, 29 Jahre alt und seit 2018 beim FC Chelsea unter Vertrag, ist das genaue Gegenteil von spektakulär, manchmal fällt er kaum auf. Seine Highlight-Videos im Internet bestehen größtenteils aus einzeln betrachtet recht einfachen Flachpässen und verwandelten Strafstößen. Beim Zittersieg gegen Spanien im Halbfinale stand Jorginho ausnahmsweise mal im Rampenlicht, und sein entscheidender Elfmeter hätte nicht besser zu seinem Stil passen können.
Mit einer kurzen Verzögerung guckte er den Torwart aus und passte den Ball cool in die andere Ecke. Es sah aufreizend einfach aus, war nach 120 anstrengenden Minuten gegen einen überlegenen Gegner in einem EM-Halbfinale aber alles andere als das. „Jorginho macht fast nie Fehler, er wählt immer die richtige Lösung“, sagte sein Nebenmann im italienischen Mittelfeld, Nicolò Barella. Jorginho sei ein Phänomen, der die Mannschaft am Laufen hält.
Im Endspiel am Sonntag (21 Uhr, ZDF) in seiner Wahlheimat London will der 29-Jährige seine bereits herausragende Saison krönen. Nach dem Triumph in der Champions League mit Thomas Tuchels FC Chelsea soll Jorginho nun Italien zum ersten EM-Triumph seit 1968 führen.
Dass Italien seit mittlerweile 33 Partien ungeschlagen ist und nur drei Jahre nach der verpassten WM eine überragende Europameisterschaft spielt, hat viel mit Jorginho zu tun. Mit 72,3 Kilometern ist er am zweitmeisten gelaufen bei dieser EM, nur zwei Spieler haben mehr Bälle erobert, und unter den Mittelfeldspielern mit ähnlich vielen Ballaktionen hat nur Spaniens Pedri eine bessere Passquote. „Er lässt alles sehr leicht aussehen. Er ist unersetzlich für diese Mannschaft“, sagt sein Mitspieler Marco Verratti.
Der Weg zum nun gefeierten Regisseur der Nationalmannschaft, den die italienischen Medien schon als Kandidaten für die Wahl zum Weltfußballer ins Gespräch bringen, war lang. Erst nachdem Roberto Mancini 2018 mit dem Neuaufbau betraut worden war, hat Jorginho in der Squadra Azzurra einen festen Platz – und ist schnell zu ihrem Schlüsselspieler geworden.
Dass Jorginho ausgerechnet unter Mancini seinen Durchbruch geschafft hat, entbehrt nicht einer gewissen Komik. 2015 sagte Mancini, damals noch als Trainer von Inter Mailand: „Ein italienischer Spieler verdient es, in der Nationalmannschaft zu spielen, während diejenigen, die nicht in Italien geboren wurden – auch wenn sie italienische Vorfahren haben –, es nicht verdienen.“
Mittlerweile debattiert darüber in Italien aber niemand mehr. Zu märchenhaft ist die Geschichte von dem jungen Brasilianer mit dem italienischen Ur-Ur-Großvater, der auf der Suche nach dem großen Fußballglück schon mit 15 Jahren nach Verona zieht und anfangs zusammen mit fünf anderen Jungs in einem Kloster wohnt. Nur 20 Euro Taschengeld soll Jorginho bekommen haben, lange sah es nicht nach der großen Profikarriere aus. Zu schwach sei er, zu langsam, zu wenig torgefährlich.
Noch vor zwei Jahren kritisierte ihn der ehemalige englische Nationalspieler Rio Ferdinand. „Wie viele Assists hat er diese Saison? Rund 2000 Pässe, aber keine Vorlage“, sagte der TV-Experte. An sonderlich vielen Toren ist Jorginho auch heute nicht beteiligt, die meisten Kritiker sind dennoch verstummt. Julian Graeber