Der Freund meines Freundes

28. Juni 2022
Obwohl Charkiw groß ist, wird dort oft behauptet, dass alle kreativen Köpfe der Stadt sich kennen. Ich kenne tatsächlich ganz viele, auch wenn ich seit 27 Jahren in Berlin lebe. Dass ich Andrey nie in Charkiw getroffen habe, bleibt mir ein Rätsel.

Wir sind gleich alt, ich bin auf dem Weg zum Musikunterricht in den späten Achtzigern zweimal wöchentlich an seinem Haus vorbeigelaufen – aber begegnet sind wir uns erst in Berlin. Andrey ist bildender Künstler, seine Werke mag ich sehr.

Sascha war nun öfter in der russischen Hauptstadt zu sehen

Ende der neunziger Jahre hat er mir von seinem besten Freund Sascha Baltasarov erzählt. Sascha, der so alt war wie wir, lebte in Charkiw und war Schriftsteller, kurz davor kam sein erstes Buch raus. Ich habe mir von Andrey ein Exemplar ausgeliehen, brachte es aber nach einigen Tagen zurück, da ich die ersten Seiten sehr anstrengend fand. Die Gelegenheit, ihn kennenzulernen bot sich früher als ich dachte, da Sascha mit seinen Eltern und seiner Ehefrau nach Deutschland emigrierte.

Groß, muskulös, mit langen lockigen Haaren – er sah mehr nach einem Gitarristen einer Heavy Metal Band aus als nach einem Literaten. Er spielte auch Gitarre, stand aber nicht auf Metal, sondern auf den sowjetischen Pop der Siebziger – sehr melodisch, ein bisschen theatralisch, ein bisschen übertrieben.

Jedes Mal wenn wir uns über den Weg gelaufen sind – ob auf der Straße, bei einer Vernissage oder in Andreys Küche – hatte ich den Eindruck, Sascha fühle sich hier nicht wohl – immer wirkte er leicht enttäuscht. Ich erklärte es damit, dass die ersten Jahre in einem fremden Land für jeden hart sind. Dafür schien es in russland für ihn gut zu laufen, sein Buch erschien dort in einem renommierten Verlag.

Wir sind zu gleicher Zeit Väter geworden. Sascha war nun öfter in der russischen Hauptstadt zu sehen. Für seinen neuen Roman bekam er einen Preis und schrieb Kolumnen für die Hochglanz-Magazine. Einmal hat er mich angerufen und kam mit einer Festplatte vorbei, um alte sowjetische Zeichentrickfilme für seine Tochter rüberzuziehen. Ich bekam sein Buch geschenkt und habe mir vorgenommen, es bis zum Ende zu lesen.

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Inzwischen lobten bekannte Autoren Sascha Baltasarov in ihren Interviews als große Hoffnung der russischen Literatur. Unter ihnen auch Eduard Limonow, den ich schon immer interessant fand – ein wahres enfant terrible, das in den Sechzigern als avantgardistischer Dichter in Charkiw anfing, in die USA emigrierte, wo er mit „Fuck Off, America“ für Aufsehen sorgte und dann in Moskau der Neunziger die Nationalbolschewistische Partei gründete. Ich war neugierig. Saschas Roman kam mir vor wie eine merkwürdige Mischung aus dem sozialistischen Realismus und Horror, ich bin schnell müde geworden davon.

Baltasarov ist nach Moskau gezogen, seine Familie blieb in Berlin. Irgendwann, 2008 muss es gewesen sein, bin ich auf ein YouTube-Interview mit ihm gestoßen. Er sah aus wie früher, immer noch Heavy Metal, aber der Gesichtsausdruck war anders, grimmiger und entschlossener. „Europa ist unser Feind, Europa hat nie russland geliebt,“ sagte er. „ In Georgien hat unsere Armee alles richtig gemacht, zart wie Chirurgen! Und wie toll unsere Politiker reagierten, ich habe ihnen extatisch zugehört!“

Andrey macht Liegestützen und will ins Auslandsbataillon

Als wir uns zufällig auf einem Berliner Spielplatz getroffen haben, stand ich kurz wie betäubt da. Sascha war schneller. Er fragte, ob ich ihm eine gute Akustikgitarre mit einem Tonabnehmer empfehlen könnte, da er angefangen habe, eigene Liedchen zu schreiben, die er bald dem Publikum präsentieren wollte. Als sein Album rauskam, habe ich reingehört. Am Anfang fand ich die Liedchen amüsant, dann aber nicht mehr. „Der letzte Gauleiter“, „Eva Braun“, „Jedem das Seine“, „Hitler“. Nun gehörten auch prominente russische Musiker zu seinem Freundeskreis, manche haben seine Songs gecovert.

Neulich rief mich Andrey an. Ich fragte, ob sein Freund Sascha Baltasarov sich in den letzten Monaten zum Krieg geäußert hat. Nein, meinte Andrey, er hat da nichts mitbekommen und wollte es eigentlich nicht wissen. Aber er macht jetzt täglich Liegestützen und überlegt, sich freiwillig im Auslandsbataillon in der Ukraine anzumelden. Ob ich mitmachen würde, fragte er.

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