Der Friedrichstadt-Palast lebt wieder
Wie aus dem Nichts tauchen die Wasserflächen auf. Eben war das Auge noch abgelenkt von den bonbonbunten Gestalten, die über die endlosen Weiten der größten Showbühne der Welt tänzeln, jetzt stehen sie plötzlich im Feuchten. Fontänen schießen auf, in tausend verschiedenen Formationen, fast wie vor dem Hotel Bellagio in Las Vegas.
Für Momente scheint ein Schwall schwerelos in der Luft zu schweben, weil bruchsekundenschnell der nasse Nachschub abgeschnitten wurde. Von Geisterhand senken sich die Becken ab, so dass Tänzer in „Findet Nemo“-Kostümen plantschend hineinspringen können, kurz darauf sind sie wieder nur knöcheltief gefüllt. Dort, wo die Showtruppe keine Wellen schlägt, wabert sanft weißer Bühnennebel über die Oberfläche. Smoke on the water.
Von allem zu viel und das gleichzeitig, so funktioniert Revue. Als letzte Institution weltweit pflegt der Friedrichstat-Palast die eskapistischste aller Kunstformen noch in der augenbetäubenden Opulenz, mit der sie zum Inbegriff der „Goldenen Zwanziger“ wurde. Damals feierte die Berliner Society enthemmt am Kraterrand, mit Blick auf die brodelnde Lava des hochkochenden Faschismus. Den Albdruck des Alltags für ein paar Stunden vergessen zu machen, das waren Sinn und Zweck der erotisch-exotisch schillernden Bühnenlustbarkeiten. Und eben dieses Bedürfnis treibt aktuell auch die coronageplagten Zeitgenossen um.
Elf Millionen Euro hat die Produktion gekostet
27 000 Besucher:innen konnten die neue Show „Arise“ bereits während der Previews sehen, also bei den Voraufführungen, die sich diesmal sechs Wochen hinzogen. Am Mittwoch nun wurde die offizielle Premiere gefeiert, zeitgleich mit dem Herbstanfang, der Eröffnung des Ethnologischen und des Asiatischen Museums im Humboldt Forum und dem autofreien Tag in Europa. Schon vor Vorstellungsbeginn herrscht Hochstimmung, ein aufgeregtes Stimmengewirr erhebt sich in den Foyers des jüngst unter Denkmalschutz gestellten Hauses, in dem sich Art Déco und Plattenbau so ungezwungen begegnen wie Menschen unterschiedlichster sexueller Neigungen und modischer Vorlieben.
Die Story dreht sich um einen Fotografen
Der Vorhang ist geöffnet, als die Gäste in den mit neuer Klimatechnik ausgestatteten Saal strömen. Eine ringförmige Skulptur dominiert die Szenerie, die an den Vorspann der James-Bond-Filme erinnert, mit ihren schräg nach innen zulaufenden Lichtbändern. Doch nicht der Blick durch den Lauf einer Feuerwaffe ist hier gemeint, sondern durch ein Kamera-Objektiv. Regisseur Oliver Hoppmann hat sich zusammen mit dem Autor William Baker die Geschichte eines Modefotografen ausgedacht, dem seine Muse abhandenkommt. Weshalb er nicht mehr in der Lage ist, im rechten Moment abzudrücken, den Glamour in seiner maximalen Strahlkraft einzufangen.
Die Models mühen sich, doch Cameron bleibt uninspiriert. Ganz im Gegensatz zum Kostümbildner der Produktion, Stefano Canulli. Was der fantasievolle Italiener an aberwitzigen Kreationen aufs Papier geworfen hat, wurde von den Werkstätten des Friedrichstadt-Palastes mit höchster handwerklicher Meisterschaft den Darsteller:innen auf den real existierenden Leib geschneidert. Viel nacktes Fleisch ist zu sehen, wohlgeformte, durchtrainierte Körper, die nichts zu verbergen haben – drumherum aber prunkt und prangt es, glitzert, flittert und glittert.
Irrwitzige Kopfbedeckungen konkurrieren mit rasanten Roben, Goldlamé mit Silbertaft, kein Detail kann extravagant genug sein. Zum Höhepunkt wird die Szene an den Wasserspielen, wenn lebende Korallen auftreten, Frau gewordene Lotusblumen, ein halbes Dutzend bekrönter Neptune, Nixen, verrückte Fische, ballonseidene Quallen und Sado-Maso-Seeanemonen.
Es war alles andere als einfach, in Zeiten von ausgefransten Fertigungsabläufen und löchrigen Lieferketten die Stoffe aus aller Welt nach Berlin zu schaffen, sagt Intendant Berndt Schmidt in seiner wie üblich aus dem Off gehaltenen Begrüßungsansprache. Von den hygienekonzeptuellen Probenbedingungen und den überkomplexen Einreiseregelungen für die internationalen Gäste im 57-köpfigen Kreativteam ganz zu schweigen: „Jeder Bühnenmoment wurde der Pandemie abgerungen, manches Mal sah es so aus, als würde die Pandemie gewinnen.“
Und dann auch noch das: Kurz vor der Premiere erkranken zwei der Hauptdarsteller – „kein Covid!“ –, dann fällt auch noch der Ersatzmann für den Fotografen Cameron aus. In allerletzter Sekunde findet sich ein Tänzer aus dem Ensemble bereit, Dimitri Gecko, dem Protagonisten seinen Körper zu leihen, während dessen Stimme vom Band eingespielt wird. Glücklicherweise hatte Erstbesetzung Frank Winkels seinen Part vorab schon aufgenommen.
Sensationelle Artistiknummern
„Danke, liebes Schicksal für diese weitere Prüfung“, seufzt der Intendant in sein Mikro. Doch allen Schwierigkeiten zum Trotz ist „Arise“ eine der besten Produktionen in der jüngeren Geschichte des Friedrichstadt-Palastes geworden. Fokussierter als gewohnt, geschmacksicherer und, ja, sogar ein wenig ernsthaft. Dabei fast frei von überkommenen Rollenklischees. Wenn man einmal davon absieht, dass die Story sich ebenso gut auch um eine Fotografin und das männliche Model ihres Vertrauens hätte drehen können. Oder um ein Paar vom selben Geschlecht – aber das würde vielleicht zu weit gehen bei so einer Show, die auf Massentauglichkeit achten muss, wenn Investitionen in Höhe von elf Millionen Euro wieder eingespielt werden müssen.
Wie bei Revuen üblich, gerät die Geschichte aber sowieso immer mal aus dem Blick. Bei den beiden adrenalintreibenden Artistiknummern beispielsweise, dem „Russian Swing Act“ mit seinen stilisierten Schiffsschaukeln und den „New Flying Cáceres“, die sich todesmutig im Luftraum zwischen zwei Trapez-Stationen tummeln. Und natürlich auch bei den choreografischen Showstoppern.
Echten Hollywood-Glamour verströmt der Auftritt des „Lichts“, einer Lebenskraft spendenden Symbolgestalt, der die Stückautoren die zerstörerische „Zeit“ entgegenstellen (verkörpert vom vorzugweise rappenden Oliver St. Louis). Jacqueline Bergrós Reinhold legt einen strahlenden Gospel-Auftritt als „Licht“ hin, Ashley Wallen lässt sie dabei hochattraktiv vom Ballettensemble umtanzen, als wär’s eine MGM-Musicalverfilmung aus den 1930er oder 40er Jahren. Weil hier aber Menschen von heute über die Szene wirbeln, wirkt zugleich alles lockerer, lässiger als in den Kinoklassikern, ja geradezu improvisiert, bei absoluter Perfektion im Zusammenspiel der Körper.
In diesem Kessel Buntes wird alles durcheinander gemixt
Ein ästhetischer Antipode zu Wallen ist Ohad Naharin, der Leiter der israelischen Batsheva Dance Company. Er eröffnet den zweiten Teil des Abends mit einer radikal reduzierten Choreografie: Im Halbkreis sitzen die Tänzer:innen auf Klappstühlen, einheitlich in schwarze Anzüge und weiße Hemden gekleidet. „Echad mi yodea“ ist ein optisches Lied mit zahllosen Strophen, immer wieder läuft dieselbe Bewegungsfolge ab – und entwickelt so archaische Wucht.
Alles kann, nichts muss, Widersprüche ziehen sich an, Kontraste feiern die Vielfalt, und alles, was gerade angesagt ist wird auch noch untergemixt in diesem Kessel Buntes. In einer Szene erinnern die Kostüme an die Netflix-Serie „Bridgerton“, in einer anderen geht es martialisch zu wie bei „Game of Thrones“. Und dann ist plötzlich alles vorbei, ohne Happyend, ohne einen zweiten Auftritt der Girlreihe. Auch das passt in diese verrutschten Zeiten. Alles anders als man denkt.