Das Marmen Quartet, eine Entdeckung

Ein Streichquartett sei ein Gespräch unter Freunden,hat Goethe einmal sinngemäß gesagt. Beim jungen Marmen Quartet aus London ist es ein Tanz unter Freunden. Und manchmal auch eine Séance.

Zu ihrem Berlin-Debüt im Pierre Boulez Saal sind sie mit einem „big hug of the Streichquartett genre“ gekommen, wie Primgeiger Johannes Marmen zwischen den Werken erläutert. Haydn, Mozart, Ligeti und „Heal“, eine Komposition der mit ihnen befreundeten Neuseeländerin Salina Fisher aus dem Jahr 2000: eine  Umarmung der Quartett-Geschichte, über drei Jahrhunderte hinweg.

Gläserne Figurinen auf kräftigem Grund

Schon bei Haydns Lerchenquartett legen die vier eine verblüffende Leichtigkeit an den Tag. Jedes Thema, jedes Motiv veredeln sie nonchalant zur gläsernen Figurine auf kräftig-warmem Grund (Bratsche und Cello spielen die Frauen, Bryony Gibson-Cornish und Sinéad O’Halloran), paaren Esprit und Schalk mit somnambulem Flor. Am schönsten ihre Kunst des Nachhorchens und Innehaltens, der homogene Umschlag von mitunter leichter Ungeduld ins Fahle und Gedankenverlorene genauso wie ins Furiose. Dazu die fein austarierten Schlüssen, ob verdämmernd im Piano oder im kollektiven Forte-Kehraus.

Im Andante von Mozarts Es-Dur-Quartett KV 428 nehmen sie sich alle Zeit der Welt, ohne jedoch zu trödeln, kosten Vorhalte und Chromatismen im meditativen Sechsachteltakt aus. So wird ein Slowmotion-Tanz daraus, mit behutsamen Umarmungen, gefolgt von den gewitzten, elegant ausgeführten Hüpfern des Menuetts. Wenig Bogendruck, aparte Akzente, ausgefeilte Klangkultur auch im Allegro vivace, dessen viele kurze Pausen das Marmen Quartet in rhythmische Widerhaken verwandelt.  

Am Ende bleibt Süße, Stille – lange wagt keiner zu applaudieren

Die Anschmiegsamkeit der Violinen (neben Marmen sitzt Ricky Gore) kommt auch den neueren Stücken zugute. Salina Fishers „Heal“ entwickelt sich aus einer kleinen Abwärtssekund, oft mit kurzem Glissando versehen. Man glaubt sich von Windmusik an einer Felsenküste umweht, lässt sich vom elegischen Bratschen-Solo davontragen und hält den Atem an, wenn sich die jungen Musiker:innen, die 2013 am Royal College of Music zusammenfanden, die Leisetöne wie fragile Kleinode weiterreichen. Am Ende bleibt Süße, Stille – lange wagt es keiner, sie mit Applaus zu zerstören. Musik von tatsächlich heilsamer Wirkung, die das Publikum im Boulez Saal um so mehr begeistert.

Auch bei György Ligetis frühem Streichquartett Nr. 1 von 1953/4 nehmen sie den Titel „Métamorphoses nocturnes“ beim Wort, auch hier gehen die vier subtil und transparent zu Werke, ob beim tastend chromatischen Hauptmotiv aus vier Tönen, bei den rhythmischen Patterns der zweiten Variation, im linksgestrickt verzerrten Walzer oder den luziden Flageolettpassagen gegen Ende. Als Zugabe und gewissermaßen als Prequel zur Geschichte der chromatischen Nähe spielt das Quartett eine Instrumentalversion von Carlo Gesualdos Responsorium „O vos omnes“, ein Gesang unter Freunden.  

Das Marmen Quartet, eine Entdeckung. Noch hat das Ensemble kein Album gespielt. Ein Grund mehr, bitte bald und öfter in Berlin zu gastieren.