Zum Tod von Heinz Florian Oertel: Er war der Momente-Macher der DDR
Seine rollende Stimme, seine beschwingte Sprache, sein verrückter Jubel mit entrückten Worten. Einen, der reden konnte wie Heinz Florian Oertel, gab es in Deutschland nicht noch einmal. Im Osten sowieso nicht, wo der Sportreporter über Jahrzehnte zur Legende wurde. Im Westen auch nicht.
Mitten im Moment konnte er ein emotionales Zuhause bauen
Keiner konnte Buchstaben so über seine Zunge kullern lassen wie Oertel, als er Katarina Witt, noch so eine Legende aus dem halben für das ganze Land, zum olympischen Eiskunstlauf-Gold begleitete: „Jawohl, Katarina, du bist über diese Klippe hinweg. Ganz hervorragend gemacht. Da fällt auch mir ein halbes Gebirge hinunter. Hello Darling!“
Sportreporter sind immer besonders begeisternd, wenn sie mitten im Moment ein emotionales Zuhause bauen. Wenn sie das Geschehende magisch färben mit außergewöhnlichen Beschreibungen, über die die an den Geräten lauschenden Leute stolpern, lachen, staunen, auch mal den Kopf schütteln, aber sie nie vergessen. Heinz Florian Oertel hat gleich mehrere davon geboren.
Sein berühmtester Satz galt 1980 dem olympischen Marathonsieger Waldemar Cierpinski – und dem Publikum in der hochleistungssportfixierten DDR, dem Oertel auf den letzten Metern des legendären Laufs zurief: „Liebe junge Väter, vielleicht herangehende, haben sie Mut, nennen Sie Ihre Neuankömmlinge des heutigen Tages ruhig Waldemar!“
Nun ist Heinz Florian Oertel gestorben, im wahrlich stolzen Alter von 95 Jahren. Am 27. März erlag er im Kreise seiner Familie einer längeren Krankheit, wie erst an diesem Montagabend bekannt wurde. Einer der ganz großen Identifikationsfiguren der untergegangenen DDR hat sein Land 33 Jahre überlebt.
Als Junge entging er der Waffen-SS und dem Tod in Kriegsgefangenschaft
Wenn man Oertel traf, auch weit nach der Wende, die seinen Starstatus abrupt beendete, konnte er sein Leben noch immer wie eine spannende Reportage erzählen – ein Leben, das sich in nicht weniger als vier Geschichtsepochen abgespielt hat. In der Weimarer Republik wird er in Cottbus in bescheidenen Verhältnissen geboren: Sein Vater ist ein Tuchmacher, seine Mutter eine Reinemachefrau. Als Schüler muss Oertel für die Nationalsozialisten den Ostwall schippen, der sowjetische Panzer aufhalten soll. Freiwillig meldet er sich als junger Mann bei der Marine, um einer Einberufung in die Waffen-SS zu entgehen.
So gerät er in englische Gefangenschaft. „Wir mussten uns in eine Reihe stellen und abwechselnd 1-2-1-2 abzählen. Ich war die 1“, reportierte Oertel später über sich selbst, um nach kurzer Pause anzufügen: „Wäre ich die 2 gewesen, hätte ich in einen Steinbruch gehen müssen. Den haben nur wenige überstanden. Das Leben ist voller Zufälle.“ Er erzählte diese Geschichte gern und mit dem sanften Lächeln der Gewissheit, auch oft Glück gehabt zu haben im Leben. Denn auch das blieb Oertel bis zum Schluss: in seinem Grunde bescheiden.
Eine Generalüberholung meines Lebens gibt es nicht.
Heinz Florian Oertel nach dem Umbruch
Nach dem Krieg will er Schauspieler werden, er kannte den „Faust“ auswendig und konnte gut Gedichte vortragen. Oertel kommt zum Stadttheater Cottbus, „für 80 Mark, dafür kriegte man zwei Brote auf dem Schwarzmarkt“. Also geht er zum Radio. Und die junge DDR braucht junge Stimmen, die den Aufbau des Sozialismus mit Optimismus verkündeten. Oertel macht Karriere, wird Mitglied der SED, erhält den „Vaterländischen Verdientorden in Gold“. Er passt sich an, redet den Leuten vor, was die Staatspartei hören will, dafür darf er um die Welt reisen – und bringt sie gleich mehreren Generationen erst am Radio und schließlich im Fernsehen nahe.
Von einem Tag auf den anderen ist der Star verschwunden
Kein Sportereignis, das Oertel nicht kommentiert, kein Sieg des kleinen Medaillenwunderlandes DDR, den Oertel nicht phantasievoll bejubelt. So wird er selbst zum Star, moderiert Schlagersendungen, parliert im „Kessel Buntes“, gibt Sportbücher heraus. Und plötzlich, von einem Tag auf den anderen, ist er nahezu verschwunden. Wie alle anderen Stars der DDR. Wie eben die ganze DDR. Die Menschen wollen lieber selbst den Westen sehen. Und dann gleich dableiben.
Oertel hat das gekränkt – und so wurde er in seinem Leben nach der Karriere zur Stimme der scheinbar Vergessenen, zu denen sich nach der hastigen Einheit und der plötzlichen Massenarbeitslosigkeit immer mehr Menschen zugehörig fühlten. Für sie erstand die DDR – gefördert insbesondere vom MDR und der marktwirtschaftlichen Ostalgie-Industrie – noch einmal auf. In bunten Farben der Erinnerung, aber mit manch blindem Fleck.
Noch mit weit über 80 schrieb Oertel Erinnerungsbücher, für die er auf Veranstaltungen zwischen Sonneberg und Saßnitz von seinen treuen Fans gefeiert wurde. Denn hatten viele Menschen nicht das Gleiche erlebt wie er – die kritischen Nachfragen zur eigenen Biografie bis zur Infragestellung eines gelebten Lebens? Oertel jedenfalls jubelte auch die ostdeutsche Lokalpresse zu, wenn er sagte: „Eine Generalüberholung meines Lebens gibt es nicht.“
Ja, auch nach dem Umbruch gab Oertel vielen Menschen noch eine Stimme. Jenen, die glaubten, keine eigene mehr zu haben, die sich oft auch nicht selbst trauten, sie in der Demokratie zu erheben, und sich mit ihr auch einmal selbstkritisch zu befragen. Oertel selbst fiel das auch nicht gerade leicht: Das Staatsdoping fand er natürlich im Nachhinein nicht gut – aber, so fragte er dann bei Gesprächen zurück, sei nicht die gesamte Sportgeschichte eine Aneinanderreihung von Dopingskandalen?
Wenn es politisch heikel wurde, hielt er sich am Mikrofon zurück
Aber doch bleibt Oertel auch im Nachhinein das, was er vorher war: ein Idol aus alter Zeit, ein Vorbild auch für Generationen von Kinder- und Jugendreportern – auch von jenem, der nun diesen Nachruf schreibt und selbst Sportreporter werden wollte, weil ich dachte, dies sei unverfänglicher als die Politik des siegreichen Sozialismus. Wenn die DDR-Fußballauswahl vor aller Augen ein Spiel mit 1:2 verlor (und das tat sie oft), konnte man also als Reporter schwerlich behaupten, sie habe 2:1 gewonnen. Von der repressiven Sportschinderei in den Kaderschulen und vom Zwangsdoping selbst von Kindern wusste man da noch nichts, es durfte ja auch keiner wissen. Hinterher mochten es Leute wie Oertel, die ihrem Ruhm ihrem Talent, aber auch dem Ruhm der DDR verdankten, es nicht immer ganz so genau wissen.
So klug und lebensklug war Heinz Florian Oertel aber in der DDR schon: Immer wenn es politisch heikel wurde, hielt er sich am Mikrofon mit Bewertungen zurück, schob sein facettenreiches Fachwissen nach vorne und zog eine überraschend nüchterne Sprache über seine Zunge. Wenn ein DDR-Fußballer ein Europapokalspiel im Westen zur Flucht nutzte, überging Oertel das. Und als die DDR-Fußballer bei der WM 1974 im einzigen deutsch-deutschen Duell die Bundesrepublik sensationell 1:0 besiegten, fiel sein Jubel fast still aus: „Sparwasser – und Tor, Jürgen Sparwasser aus Magdeburg, eine glänzende Aktion!“
Später verlor Oertel die Nüchternheit bei der Bewertung von sportpolitischen Dingen – etwa, wenn er in wütenden Artikeln vom FC Euro fabulierte, der mit Paule Portmonee gegen den FC Dollar antrete. Mich als sein früherer Fan schmerzte das.
Vielleicht lag am Ende etwas zu viel Bitterkeit in seinen Worten
Einmal, vor 15 Jahren muss das gewesen sein, gingen wir am Rosa-Luxemburg-Platz spazieren. Im Gehen zählte er mir die Artikel des Grundgesetzes auf, trug sie mit seiner sanft rollenden Stimme vor wie ein Gedicht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und dann hinterließ er eine Pause und ein fragendes Gesicht – in ihm stand geschrieben: Gelten diese Rechte im vereinten Deutschland denn wirklich für alle?
Vielleicht lag am Ende etwas zu viel Bitterkeit in seinen Worten, vielleicht hat man ihm im Westen zu wenig zugehört und ihn im Osten zu selten kritisch hinterfragt. Im Umgang aber war Oertel stets ein, wie man es früher nannte, feiner Kerl.
Herzlich, oft lachend, in vielerlei Hinsicht lebensweise und dennoch nahbar –bis zum Schluss blieb Heinz Florian Oertel einer, mit dem man gerne Zeit verbrachte. Er erzählte gern von seinem Sohn und seinen beiden Töchtern, den Enkeln, den Sportabenden vor dem heimischen Fernseher und von seinen Spaziergängen in der Schönholzer Heide in Pankow, in deren Nähe er in einem Haus wohnte. Er lud hier gerne auch mal ein, doch vor vier Monaten zu seinem 95. Geburtstag schon nicht mehr – die Gesundheit machte nicht mehr mit.
Was bleibt von einer Legende? Mehrere magische Momente der deutschen Sportgeschichte. 17 Olympische Spiele, 8 Fußball-Weltmeisterschaften, 17 Mal „Fernsehliebling des Jahres“ in der DDR. Dazu ein Leben davor. Und ein Leben danach. Das auch Zufälle brauchte, um ein erfülltes zu werden. Und eine unverwechselbare Stimme, mit der er Gefühlsausbrüche in spontane Sprache einwickelte, bis das Geschehene und Gesehene einen Glanz bekam.
Mit Heinz Florian Oertel ist ein Stück DDR gestorben. Er fühlte sich am Schluss vergessen. Dabei wird er eines auch nach seinem Tod bleiben, im Osten sowieso, aber gewiss auch im Westen: ein Unvergessener.