Hinten nicht ganz dicht
Im Moment der höchsten Not verfiel selbst Manuel Neuer in eine seltsam fatalistische Haltung. Seine eigene Wirkungsmacht war auf ein Minimum beschränkt, und natürlich ist das kein gutes Zeichen, wenn sogar der angeblich beste Torhüter der Welt und aller Zeiten nichts mehr ausrichten kann und ihm nichts anderes übrig bleibt, als auf das Versagen des gegnerischen Angreifers zu hoffen.
Doch Neuers Hoffnung blieb unerfüllt. „Leider hat er mich nicht angeköpft“, sagte der Torhüter der deutschen Fußball-Nationalmannschaft.
Er – das war der Ungar Andras Schäfer, der seine Mannschaft im finalen EM-Vorrundenspiel nur Sekunden nach dem Ausgleich der Deutschen erneut in Führung brachte. „Das war halt irgendwie einfach schlecht“, sagte Bundestrainer Joachim Löw über die Entstehung des Treffers zum 2:1 für den krassen Außenseiter. Eine völlig neue Erfahrung war das für ihn und seine Mannschaft nicht. Fünf Gegentore haben die Deutschen bei der Europameisterschaft bereits kassiert, und wirklich gut hat ihre Defensive bei keinem dieser Treffer ausgesehen.
„Gegentore können passieren, aber in dieser Vielzahl bei einem Turnier ist es echt schwierig“, sagte Neuer. Eine stabile Defensive gilt als essentiell wichtig, wenn man bei einem Turnier etwas Großes erreichen will. Davon sind die Deutschen weit entfernt. In jedem der drei Gruppenspiele sind sie in Rückstand geraten, gegen Ungarn sogar zweimal. So viele Gegentore wie in der Vorrunde der laufenden EM hat die Nationalmannschaft seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr kassiert.
Auch mal ohne Gegentore vom Platz
Unter Joachim Löw sowieso noch nie und überhaupt zuletzt bei der Europameisterschaft 2000. Damals hieß der Bundestrainer Erich Ribbeck, die Deutschen schieden in der Vorrunde aus – und waren mit ihrer Nationalmannschaft die Lachnummer Europas.
So schlimm ist es diesmal nicht. Löws Mannschaft hat sich trotz allem für das Achtelfinale qualifiziert, in dem sie an diesem Dienstag im Wembleystadion auf England trifft.
Dass sie vorne – wie gegen Portugal (4:2) und Ungar (2:2) – mindestens so viele Tore schießen, wie sie hinten kassieren, hat die Deutschen vor dem größten anzunehmenden Unfall bewahrt. Dass dies auch in der K.-o.-Runde so funktioniert, darauf sollte sie sich lieber nicht verlassen. „Für den weiteren Verlauf des Turniers wird es wichtig sein, dass wir es schaffen, auch mal ohne Gegentor vom Platz zu gehen“, sagt Joshua Kimmich.
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Darauf hoffen sie schon länger. Inzwischen sind es bereits sechs Begegnungen, in denen die Nationalmannschaft nicht mehr zu null gespielt hat. Nicht einmal gegen Lettland, die Nummer 138 der Weltrangliste, ist ihr das gelungen. In den sechzehn Spielen nach der Corona-Zwangspause blieb sie lediglich drei Mal ohne Gegentor, und bei einem großen Turnier war das zuletzt 2016 der Fall, im EM-Achtelfinale gegen die Slowakei.
Dem Defensivverbund fehlt es an Abstimmung
Es ist ja nicht so, dass der Nationalmannschaft das Bewusstsein für dieses Problem fehlt. „Das Hauptaugenmerk muss für uns lauten, dass wir in der Defensive stabiler werden“, hat der Bundestrainer zu Beginn der EM-Vorbereitung gesagt. „Ich bin mir sicher, dass wir uns im Zweikampf verbessern müssen, im konsequenten Agieren im eigenen Sechzehner. Das ist die Basis.“
Einen knappen Monat später klingt Löw nicht grundlegend anders. „Wir müssen ein paar Dinge logischerweise korrigieren. Wir müssen absolut auf der Hut sein“, hat er nach dem 2:2 gegen Ungarn gesagt. „Bei Flanken in den Sechzehner, bei Standardsituationen, da gibt es kein Pardon mehr.“
Wenn man sich die Gegentore der Deutschen bei dieser EM im Detail anschaut, dann lassen sich durchaus wiederkehrende Muster erkennen, die auf ein grundsätzliches Problem verweisen: Dem Defensivverbund fehlt es an der nötigen Abstimmung. Aber woher soll die auch kommen?
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Löw hat sich erst kurz vor dem Turnier für das System mit der Dreierkette entschieden; er hat erst kurz vor dem Turnier Mats Hummels reaktiviert; er hat erst kurz vor dem Turnier Joshua Kimmich aus der eminent wichtigen Sechserposition auf die Außenbahn verschoben und die in der Zentrale frei gewordene Stelle mit Toni Kroos besetzt, der seine Stärken eindeutig im Spiel nach vorne hat und nicht unbedingt durch robuste Zweikampfführung bekannt geworden ist.
Gegen England braucht es mehr Entschlossenheit
„Was auffällig ist: Wir sind bei Gegentoren selten in Unterzahl und haben immer genügend Spieler hinterm Ball“, sagt Thomas Müller. Beim 1:0 der Franzosen zum Beispiel, das im Anschluss an einen Einwurf entstand. Fünf deutsche Spieler umringten drei französische. Und trotzdem konnte sich Paul Pogba ganz geschmeidig aus der Belagerung lösen – weil es anscheinend kein konzertiertes Vorgehen der Deutschen gibt: Wer attackiert? Und wo? Wer geht mit? Wer rückt raus oder rein? All das wirkt nicht verlässlich aufeinander abgestimmt.
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Beim ersten Tor der Ungarn war es ähnlich. Roland Sallai sah sich im Halbfeld gleich zwei Deutschen – Antonio Rüdiger und Toni Kroos – gegenüber, die sich dann beide in seltener Einmütigkeit dazu entschlossen, den Ungarn nicht zu attackieren. So konnte Sallai unbedrängt auf seinen Mitspieler Adam Szalai flanken, der zwar ebenfalls zwei deutsche Innenverteidiger – Mats Hummels und Matthias Ginter – in seinem Dunstkreis hatte, sich aber zwischen beiden hindurchschlängeln und relativ problemlos zum 1:0 einköpfen konnte.
„Wir müssen den Druck auf den Ball hochhalten und dürfen uns nicht zu sicher fühlen, weil wir einen oder zwei Männer mehr hinter dem Ball haben“, fordert Thomas Müller.
Gerade gegen England und in möglichen weiteren K.-o.-Spielen wird die deutsche Mannschaft mehr Klarheit in ihrem Defensivverhalten benötigen, mehr Entschlossenheit, mehr allgemeine Aufmerksamkeit. „Es hat schon jede Mannschaft Tore kassiert“, sagte Thomas Müller. Er stockte, grübelte kurz und fügte noch an: „Vielleicht gibt es im Turnier auch eine Mannschaft, die keins kassiert hat.“ In der Vorrunde gab es sogar zwei. England war eine davon.