Deutsch-deutsche Comicbiografie „Seid befreit“: Die Farben des Umbruchs
Es ist der Aufbruch in eine Zeit, in der sich Stück für Stück alles Dagewesene auflöst. In der sich das eintönige Grau der Umgebung in grelle und leuchtende Farben verwandelt. Die vielen bunten Lichter so durchdringend sind, dass sich die Augen erst daran gewöhnen müssen. „Ich lebe heute in einem anderen Land, ohne jemals umgezogen zu sein“, schreibt Sandra Rummler. In ihrer autobiografisch inspirierten Graphic Novel „Seid befreit“, die jetzt im avant-Verlag (264 S., 29 €) erschienen ist, erzählt die Berliner Künstlerin von ihrer Kindheit in der DDR und wie sie als Jugendliche die Wende erlebt hat.
Aufgewachsen in Ost-Berlin, ist die Mauer Teil ihres Alltags. Alles dahinter, im Westen der Stadt, passiert nur in ihrer Vorstellung. Die Protagonistin Mo erzählt aus der Ich-Perspektive, wie sie sich in das System einfügt, als Mitglied in der Pioniergruppe sowie als junge Sportlerin. Ganz im Sinne der DDR soll sie mit täglichem Training zu einer erfolgreichen Leistungssportlerin aufgebaut werden.
Nuancen in den grau-braunen DDR-Kulissen
Aber eines Tages kommt der Bruch, ihre Emanzipation von dem System, das ihrem Wunsch nach Individualität nicht gerecht wird. Sie schwänzt nun oft die Schule, beginnt zu zeichnen und stromert durch die Gegend. Ihre Entdeckungstouren führen sie vorbei an Häuserfronten zu vergessenen, heruntergekommenen Orten.
Erstaunlich ist, wie Sandra Rummler dunklen Hinterhöfen oder brachliegenden Fabrikgebäuden in ihren Bildern eine eigentümliche Ästhetik abgewinnt. Fast schon poetisch muten die heruntergekommenen Gebäude darin an, auch in der auf den ersten Blick grau-braunen DDR-Kulisse finden sich bei genauerer Betrachtung viele Farbtöne und Nuancen.
Rummlers grafische Verarbeitung ihrer Kindheit und Jugend während der Wende ist bestechend. Es lassen sich Einflüsse aus unterschiedlichen künstlerischen Stilen finden. Die Künstlerin, die 1976 in Ost-Berlin geboren wurde, ist nicht nur als Comiczeichnerin, sondern auch als Illustratorin, Malerin und Fotografin tätig.
Die Farben changieren, fließen ineinander oder werden von klaren Konturen getrennt. Wie in der Fotografie spielt sie auch hier mit Schärfe und Unschärfe oder nutzt collagenartige Elemente. Neben den urbanen Impressionen sind in dem Buch einige wenige wunderschöne Landschaftsgrafiken enthalten wie die Brücke über einem Fluss. Auffällig ist, dass sich Rummler mit ihren meist ganzseitigen Bildern von der klassischen Panelstruktur löst und mit all ihren Mitteln die Möglichkeiten des Mediums auslotet.
Übergang in das unbekannte Land
Thematisch spielen auch die entscheidenden historischen Etappen eine Rolle: Die Flucht zahlreicher DDR-Bürger:innen über Ungarn und Prag in die BRD, der Ruf nach freien Wahlen, die friedliche Revolution. Und dann, ganz plötzlich: der Fall der Mauer.
Wie viele andere zieht es Mo nach West-Berlin. Vor dem Hintergrund der geschichtlichen Ereignisse geht es vor allem aber um ihre persönlichen Eindrücke, ihren subjektiven Blickwinkel beim Übergang in das unbekannte Land.
Ich lebe heute in einem anderen Land, ohne jemals umgezogen zu sein.
Sandra Rummler, Autorin
Die Wende erlebt sie als eine neue Welt der Farben und der blinkenden, grellen Lichter. „Bunte Murmeln fielen aus meinem Kopf und rollten durch die Stadt“, beschreibt Mo die ungewohnte Flut all dessen, was auf sie niederprasselt. Dazu zählen die Produkte in den Supermärkten, Graffiti an den Wänden oder die entstehende Clubkultur.
Neben all dem spannenden Neuen kommen auch die Schattenseiten der Wende zum Vorschein. Mo erzählt davon, wie sie auf eine andere Schule in West-Berlin wechselt, wo sie von ihren Mitschüler:innen angefeindet und als Ossi beschimpft wird. Ihre Eltern, vorher im Staatsdienst der DDR beschäftigt, verlieren ihre Jobs.
Und dann sind da – unabhängig von Ort und Zeit – auch noch ihre Erfahrungen als Jugendliche, ihre Begegnungen mit anderen Menschen, Freundschaften und die erste Liebe.
Anders als die räumlichen und grafisch vielseitigen Impressionen der Stadt sind die Figuren in dem Comic auffällig reduziert, flächig und mit wenigen Strichen gezeichnet. Sie bilden einen eigenartigen Kontrast zu ihrer Umgebung, wirken wie abgetrennt von dem, was um sie herum geschieht.
Das mag daran liegen, dass ihre Jugend eng mit der Zeit der Wende verknüpft ist, gleichzeitig aber für sich steht und einen universellen Charakter hat. Mit ihrer fulminanten, expressiven Graphic Novel hat Sandra Rummler der besonderen Zeit der Wende und dem Land ihrer Kindheit ein grafisches Denkmal gesetzt.