Berliner Symphoniker spielen am Tacheles: Erinnerungen an jüdisches Leben
Von der Oranienburger Straße aus sieht man: pures Chaos. Sand- und Steinhaufen, Baumaschinen, Dixiklos, Gerüste, riesige Müllsäcke. Durch die Passage aber, die seit Neuestem von der sanierten Tacheles-Ruine hinüber zur Friedrichstraße führt, kann man auf den Aaron-Bernstein-Platz gelangen. Zumindest am Sonntag, für das Freiluftkonzert, das die Berliner Symphoniker dort veranstalten.
Ein schmaler Durchlass tut sich neben Rossmann und Rewe auf, den ersten Mietern der neuen Shoppingmall, die das in den Nachwendejahren sehr lebendige, später nur noch legendäre Künstlerbiotop des Tacheles ersetzt. Investorenarchitektur umgibt den Freiraum, der bald zur Piazza mit mediterranem Flair und diversen Restaurants werden soll. Ein paar Bäume sind bereits gepflanzt, einige der sündhaft teuren Wohnungen bezogen, vor den Balkonen des spektakulärsten Hauses, dem Dreiecksbau des Duos Herzog & den Meuron, hängen aber noch knallgrüne Sicherungsnetze.
Klingende Geschichtsstunde
Nur zu einem Drittel ist der Boden gepflastert, aber das reicht, um eine mobile Bühne aufzustellen und einige Hundert dieser maximal unbequemen Klappstühle, die sich für Freiluftveranstaltungen leider durchgesetzt haben. Fast alle Plätze sind belegt, als um 16 Uhr der Dirigent Justus Thorau das Podium betritt. So eng sitzen dort die Berliner Symphoniker, dass sich der Maestro nur mühsam zu seinem Platz durchschlängeln kann, ebenso wie seine beiden solistischen Mitstreiter, die Schauspieler Christian Redl und Michael Schrodt.
Das Open-Air-Event ist nämlich kein „Estradenkonzert“, wie man früher sagte, kein populäres Potpourri beliebter Melodien, sondern eine ernste Sache. „Berliner Orte“ nennen die Symphoniker ihre Veranstaltungsreihe, bei der sie mit literarisch-musikalischen Programmen den kulturellen Echoraum charakteristischer Plätze in der deutschen Hauptstadt ausmessen.
Am Sonntag geht es um die Jüdischen Kulturbund. Der wurde tatsächlich schon im Juli 1933 gegründet, als Reaktion auf die Entlassungen jüdischer Künstler und Künstlerinnen aus allen staatlichen Kulturinstitutionen. Die Nazis genehmigten den Antrag – denn sie erkannten schnell, dass sich propagandistisches Kapital aus der Sache schlagen ließ. Wann immer sie international für ihre Arisierungspolitik kritisiert wurden, konnten sie darauf verweisen, dass jüdisches Kulturleben im Deutschen Reich gepflegt wurde.
Vom Gedicht bis zum Schlager
Das Haus des Kulturbundes wurde beim Pogrom des 9. Novembers 1938 auf Goebbels Befehl hin verschont, erst im September 1941 löste das Regime die Organisation auf. Zu den Spielstätten, in denen – ausschließlich von Juden für Juden – Schauspiel und Oper, Konzerte und Vorträge geboten wurden, gehört auch die Synagoge der Reformgemeinde. Die befand sich in der Johannisstraße, einer schmalen Gasse, die direkt hinter dem heutigen Gentrifizierungsgebiet des Tacheles liegt. Das bewog Katja Lebelt und Philippe Perotto zu der Themenwahl.
Gedichte, Informationen und Erinnerungen von damals beteiligten Künstlern werden wechselseitig durch die beiden Schauspieler vorgetragen, die Berliner Symphoniker liefern musikalische Zwischenspiele. Der Bogen reicht dabei von Glucks „Iphigenie in Aulis“-Ouvertüre, die beim ersten Kulturbund-Konzert erklang, bis zu Mendelssohns „Sommernachtstraum“-Partitur, die beim allerletzten gespielt wurde.
Hits wie Kalmans „Csardasfürstin“ sind dabei, die meisten Stücke aber sind echte Entdeckungen. Ernest Blochs herbes „Concerto grosso“, vom Orchester mit unerbittlicher Verve interpretiert, Erich Wolfgang Korngolds elegant-leichtfüßige „Viel Lärm um nichts“-Schauspielmusik, das atmosphärisch dichte Adagio von Leo Kopf.
Michael Schrodt hat großen Erfolg mit den Willy-Rosen-Schlagern „Miese Zeiten“ und „Was macht der Mann da auf der Veranda?“. Der Kopfsatz aus Karl Goldmarks 2. Sinfonie klingt genauso, wie ein wilhelminisches Eichenholz-Kredenz aussieht, ans Herz greift dagegen die „Kleine Musik für Streicher“ von Warner Seelig-Bass, in ihrem tief empfundenen Seelenschmerz.