Das Beste des Tages
Rituale gehören zum Leben. Sie kommen alle Jahre wieder oder strukturieren unseren Alltag. In dieser Serie erzählen wir von Lust und Frust der Wiederholung.
Als Kind schrieb ich kein Tagebuch, damals reichte es mir, mich in Poesiealben zu verewigen und salbunsgsvolle Sprüche über das Leben, die Liebe und das Glück abzulassen. Ich kann mich erinnern, dass es ein gutes Gefühl war, ein Poesiealbum überreicht zu bekommen. Das hieß, dass andere einen nett fanden. Ich hatte eine Mitschülerin, die brauchte nicht nett zu sein, sie konnte besonders gut zeichnen und durfte in jedes Poesiealbum malen. Freifahrtschein.
Seit ich erwachsen bin, kämpfe ich mit dem Ritual des Tagebuchschreibens. Es gibt eigentlich niemand, der sagt, Tagebuchschreiben sei schlecht. Das Tagebuch hilft bei Liebeskummer, Ärger, Glück, Neuanfängen, Lebenskrisen. Ich habe schon oft gehört, dass es Leuten auch durch die Pandemie geholfen hat. Familien, die Familientagebuch führen. Und jeden Abend gemeinsam aufschreiben, was am Tag wichtig war. Danach gehen sie ins Bett und fühlen sich gut. Ich finde das schön.
Eine Psychologin schrieb, gerade in Homeoffice-Zeiten brauche man Rituale. Rituale, um aufzustehen, Rituale, um den Computer einzuschalten, Bewegungsrituale, Rituale, um den Computer wieder auszuschalten und natürlich Tagebuch. Wer die shitty feelings da reinpackt, trägt sie nicht mit sich herum.
Ein Satz geht immer
„Heute nichts geschrieben“, lautet ein berühmter Tagebucheintrag Franz Kafkas. Möglicherweise meinte er damit, dass er an diesem Tag nichts Literarisches verfasst hat. Vielleicht war es aber auch ein genialer Lückenfüller für sein Tagebuch. Nichts aufzuschreiben – das kenne ich gut, es passiert mir oft. Ich verwende derzeit mehrere Tagebücher parallel. Eins habe ich vor drei Jahren im Indienurlaub angefangen, und obwohl da viel los war und danach eigentlich auch, passt immer noch was rein. Eines anderes enthält Zeichnungen, auch damit habe ich es probiert. Eines habe ich im Computer, es sind Briefe an mich selbst.
Und dann habe ich noch „One Line a day“, ein spezielles Tagebuch, das über fünf Jahre geht. Die Jahrestage stehen jeweils untereinander, so dass man am Ende die Einträge miteinander vergleichen kann. In einer Internetrezension beschwert sich ein Nutzer: Er fühle sich genötigt, immer etwas Bedeutungsvolles in den einen Satz zu packen, das schaffe er nicht. „One line a day“ sei verbesserungswürdig. Das ist die beste Ausrede überhaupt. Das Tagebuch ist schuld.
Zehn Minuten einfach drauflos
Ich finde es bei „One line a day“ noch am leichtesten, ein Satz geht immer. „Um zwei Uhr morgens kam Land in Sicht“, schrieb Christoph Kolumbus am 12. Oktober 1492 in sein privates Logbuch. So macht man das. Hallo Amerika.
Ich bewundere konsequente Tagebuchschreiber. Sie haben das Durchhaltevermögen, das mir fehlt. Bei mir ist entweder alles gut ist, oder alles zu kompliziert, oder die Dinge fühlen sich im Moment des Schreibens schon an wie ein alter Hut. Es gibt eine Methode, die besagt: Timer auf zehn Minuten stellen, drauflosschreiben, nicht nachdenken, bis der Timer piepst. Ich habe auf diese Weise eines abends – beste Tagebuchschreibzeit – viele Seiten gefüllt. Aus Versehen hatte ich den Wecker auf 1 Stunde 10 gestellt statt auf zehn Minuten. Anscheinend gab es an dem Tag dann doch was zu sagen.
Bisher erschienen: Papa spielt den Weihnachtsmann, Warten auf die Geschenke, Spaziergang am Heiligabend, Witze in Endlosschleife und letzte Pointen, Ritualfindung im Fitnessstudio.