Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (95): Charkiw. Antuan. Und Turbo

8.12.2022 Antuan

Antuan möchte mir was zeigen. Er sucht das Video auf seinem Handy, das er gerade noch als Taschenlampe benutzt hat. Es ist 18 Uhr, und wie dieses Jahr auf den meisten Straßen meiner Heimatstadt Charkiw ist es auch hier abends stockdunkel. „Das ist der 25. Februar“, sagt Antuan und hält mir sein Handy entgegen.

 Als es losging, wollte ich es einfach nicht glauben. Ich hatte nie Probleme mit Russland

Antuan, Tänzer der Gruppe TURBOta

In dem Video sieht man nicht viel – ein stehendes Auto, ein bisschen Rasen, etwas vom Plattenbau daneben, alles mit leicht zitternder Hand gefilmt. Im Hintergrund hört man Explosionen, mal lauter, mal leiser, ununterbrochen, die ganzen 15 Sekunden lang. 

„Als es losging, wollte ich es einfach nicht glauben. Ich hatte nie Probleme mit Russland, verstehst Du…,was soll’s?! Aber dann habe ich mir vorgenommen, mindestens fünf Familien am Tag zu evakuieren”, erzählt Antuan mir, während wir weiter laufen.

Antuans Großvater konnte Jiddisch sprechen

In den ersten Märzwochen wurden die Beschüsse immer heftiger, seine Frau und Tochter haben die Stadt verlassen. Antuan blieb und bot seine Dienste bei der Synagoge an. Deren Mitarbeiter taten seit dem ersten Tag des Großen Krieges alles, um Charkiwer zu unterstützen, und zwar nicht nur die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, sondern alle, die um Hilfe baten. So hat Antuan angefangen, Medikamente, Lebensmittel und Essen an die Älteren und die Kranken zu liefern. 

Ich kenne ihn mein ganzes Leben. Unsere Großmütter Liuba und Maia haben sich 1948 kennengelernt, wurden beste Freundinnen und sind es geblieben. In der Wohnung von Antuans Großeltern feierte man jüdische Feste. In den frühen 1980ern dabei zu sein, war für mich eine Offenbarung. Mit sechs hatte ich mitbekommen, dass meine Familie mütterlicherseits jüdisch ist. Aber ich hatte damals keine Ahnung, was das eigentlich bedeutet. Diese Erkenntnis kam ohne jegliche Gebrauchsanleitung. 

Antuans’ Opa Simkha – oder Simyk, wie ihn Freunde nannten – war über viele Jahre die einzige Person in meiner Welt, die Jiddisch sprechen konnte und genau wusste, was man bei Chanukka oder Pessach tut. Viel später erzählte mir meine Mutter seine Geschichte. Er kam aus dem polnischem Pultusk, wurde 1939 in die Armee eingezogen und war bei Lwiw stationiert – ausgerechnet zu jener Zeit, als Ostpolen von den Streitkräften der UdSSR besetzt und als Teil der Sowjetischen Ukrainischen Republik erklärt wurde.

Simyk und sein Vater, der gerade bei ihm zu Besuch war, wurden in ein Arbeitslager in die nordrussische Hafenstadt Archangelsk verbannt. Ihre ganze Familie kam im Lodzer Getto ums Leben. Nach dem Krieg sind beide in Charkiw gelandet.  

Mit 13, als ich angefangen hatte, mich für Musik zu interessieren, kam ich mit meiner Oma zu den Festen in Simyks und Maias Wohnung, um mich mit Antuan auszutauschen. Seine Kumpels hatten ein Tanzkollektiv gegründet, das sie Turbo nannten, und waren damit sensationell erfolgreich. Auf den ersten Breakdance-Festivals, die es in der Sowjetunion in den späten Achtzigern wie Pilze nach dem Regen gab, gewann Turbo einen Preis nach dem anderen.

Zu acht wohnte Antuans Mutter mit ihren Freundinnen

Später zogen Turbo nach Moskau und tanzten für die bekanntesten Popstars der frühen 1990er. Schließlich kehrten die Turbo-Jungs nach Charkiw zurück und eröffneten eine Tanzschule für Kinder. 

1995 ging ich nach Deutschland. Den Kontakt zu Antuan hatte ich verloren, bis ich vor ein paar Jahren auf sein Facebook-Profil gestoßen bin. Heute sehen wir uns endlich wieder, ich bin zum Abendessen bei seiner Mutter eingeladen. 

In den ersten Kriegswochen zogen einige Freundinnen der Mutter aus anderen Bezirken Charkiws, wo die Bombardierung nicht auszuhalten war, zu ihr in die Wohnung. Monatelang haben sie zu acht gewohnt, mit sieben Katzen und zwei Hunden – und seitdem treffen sie sich jeden Tag um 17 Uhr zum gemeinsamen Essen. 

Antuans alte Kumpels von Turbo kommen auch, seit Monaten arbeiten sie zusammen; Turbo haben sie zu TURBOta umbenannt (ukrainisches Wort für “Pflege”). 

Als Antuan mich zum Klub bringt, wo mein Konzert heute Abend stattfindet, umarmen wir uns – und ich stelle mir vor, wie wir beim großen Fest zum Tag des Sieges zusammen auftreten. Ich erkläre mich bereit, dafür ein Stück zu schreiben, zu dem Turbo mal wieder breakdancen kann!  

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