„Es muss schreien, es muss brennen“ versammelt Geschichten von Leslie Jamison

Tätowierungen sind eine Wette auf das eigene Ich. Sie versichern einem die eigene Beständigkeit, setzen auf die Hoffnung, dass man über kommende Entwicklungen hinweg eine Entscheidung für richtig erachtet, sich zumindest mit ihr wird arrangieren können. Die US-amerikanische Autorin Leslie Jamison hat ein chaotisches Leben geführt, ist vor Beziehungen davongelaufen, war haltlos und alkoholsüchtig, und hat sich eine Tätowierung stechen lassen. „Homo sum: humani nil a me alienum puto“ steht auf ihrem Arm: „Ich bin ein Mensch: Nichts Menschliches ist mir fremd.“

Das Terenz-Zitat schickte sie auch ihrem ersten Essay-Band „Die Empathie- Tests“ vorweg, mit dem sie 2014 bekannt wurde. Eine sensible Autorin beobachtete da ihre Umwelt und horchte ebenso aufmerksam in sich selbst hinein, stets bereit, allem nachzugehen und nachzugeben, was sich ihr aufdrängte. Selbst als ein Mann sie ins Gesicht schlug, notierte sie beeindruckt: „Es war eine der ehrlichsten Gesten, die ich je gesehen habe.“

Nun, mit Ende dreißig, ist Jamison trocken, erfolgreich, verheiratet, hat ein eigenes und ein Stiefkind und zweifelt an ihrem Motto. Für eine Reportage recherchiert sie über Kinder, die vorgeben, sich an ein früheres Leben zu erinnern.

Ein kleiner Junge behauptet, er sei als Kampfpilot im Zweiten Weltkrieg abgeschossen worden, ein anderer fühlt sich als ein im falschen Körper gefangener Tabakfarmer. Jamison wehrt sich dagegen, die Berichte als irrational oder Symptom psychischer Störungen abzutun, sie will es sich nicht so leicht machen.

Wie aber lässt sich der unbedingte Wunsch, Anteil zu nehmen und zugewandt zu sein, wie der Glaube mit der Vernunft vereinbaren? Jamison sucht einen literarischen Ausweg und deutet Reinkarnation als „eine Metapher für einen Aspekt des Lebens, den zu akzeptieren mir schon immer schwergefallen ist: dass nichts in unserem Leben einzigartig ist, dass wir immer – in gewisser Weise – wiederleben“. Existenz heiße also, sich gleichzeitig zu wandeln und fortzubestehen, „in der Nüchternheit, in der Liebe, im Körper eines Fremden“.

Der berühmteste Wal der Welt

Auch Jamison lebt wieder, lebt neu. Vor allem von diesem Leben erzählt sie in ihrem Essay-Band „Es muss schreien, es muss brennen“. Zunächst geht es scheinbar um disparate Themen. Das Porträt einer manischen Fotografin folgt auf einen Reisebericht aus Sri Lanka und einer literaturtheoretischen Abhandlung zu einem Klassiker des New Journalism. In erster Linie geht es aber immer um sie selbst. Jamison lauscht dem Hall ihrer Begegnungen und Lektüren in sich nach. Die Welt geht sie an.

Das ist allerdings auch die Schwäche einiger der hier versammelten Texte. Sie führen mitunter nicht über die Beschreibung dessen hinaus, was sie in Jamison auslösen. Man sollte besser ebenso viel Interesse an den Themen der Autorin wie an ihrer Person aufbringen.

[Leslie Jamison: Es muss schreien, es muss brennen. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Hanser, Berlin 2020. 320 S., 25 €]

In einer Recherche geht es um die Geschichte des wohl berühmtesten Wals der Welt, „52 Blue“, der in einer ungewöhnlichen Frequenz singt und seit Jahrzehnten allein durch den Ozean schwimmt. Jamison trifft Menschen, die das Tier als Symbol der eigenen Einsamkeit oder Unabhängigkeit verstehen. Sie möchte herausfinden, wie und warum sie in der Natur Zeichen für ihre eigene Situation finden, weshalb sie dessen Andersheit nicht anerkennen.

Am Ende plädiert sie dafür, zwei Wale nebeneinander durch die Meere ziehen zu lassen, zunächst das Tier für sich, dann seine Metapher, eine vermenschlichte Version, was ein zwar salomonischer Schluss ist, der sich intellektuell aber recht genügsam ausnimmt.

Das Leben einer Konvertitin

Der Band ist in drei Kapitel eingeteilt – „Sehnen“, „Schauen“, „Bleiben“ – und endet mit dem Bericht einer Schwangerschaft. Jamison gibt sich dem Heißhunger hin, ernährt nun zwei Menschen und blickt vergleichend auf ihre Zeit als magersüchtige Studentin zurück. Erwachsen werden, so die Botschaft, bedeutet nicht, allein leben zu können, sondern im anderen einen Grund zu finden, auf sich selbst Acht zu geben.

Jamison möchte ihre Leser:innenschaft an den eigenen Lernprozessen teilhaben lassen. Sie scheut dabei erfreulicherweise kein Pathos, überschreitet aber teils die Grenze zur Predigt, verallgemeinert ihre Erkenntnisse und schirmt sie gegen Zweifel ab. Womöglich sind diese Zweifel nicht zuletzt ihre eigenen, die einer Konvertitin, die das unstete Leben von einst mit dem neuen Wunsch nach Sicherheit und Verbindlichkeit zu vereinbaren sucht.

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In einem Text stürzt sie sich auf dem Strip in Las Vegas in eine Romanze, die sich bald als Missverständnis herausstellt, als Fantasterei zweier Menschen, die nicht am jeweils anderen, sondern nur an ihren Vorstellungen voneinander interessiert sind.

Heiraten wird sie trotzdem in der Stadt, allerdings einen anderen Mann, der nicht wegen der Casinos herkam, sondern einfach hier geboren wurde, für den die glitzernde Scheinwelt eine schlichte Tatsache darstellt: Heimat. „Ehe ist etwas anderes, als einem neuen Lover deine besten Geschichten zu erzählen; Ehe ist, deinen Mann zu fragen, wie sein Tag war, und bei seiner Antwort keinen glasigen Blick zu bekommen“ – das klingt weniger nach einem Gelöbnis denn nach einer Beschwörung. Als sei eine Erzählerin unverhofft in ein Happy End geraten und versuche sich nun selbst zu überzeugen, dass von nun an wirklich alles gut geht.