Kampfname „Tourneeschlampe“: Georg Ringsgwandls literarisches Roadmovie
Es ist ein alter Kniff, der hier fast wie neu funktioniert. Cervantes, Goethe, Swift, Umberto Eco und viele andere haben sich in ihren Romanen bisweilen die Figur eines fiktiven Herausgebers geschaffen, der den Text des Buchs als Hinterlassenschaft eines anderen, wiederum imaginären Autors ausgibt.
Im Fall des bayerischen Rock- und Bluespoeten Georg Ringsgwandl spricht aus den „Unvollständigen Aufzeichnungen der Tourneeschlampe Doris“ eine junge Frau, die als Schulmädchen in die Familie des Kardiologen Dr. Ringsgwandl und seiner Frau Christiane, einer Psychotherapeutin, als Babysitterin für deren Kinder gekommen war.
Eine frühreife Mischung aus Schulmädchen und Backstagemanagerin
Weil sich der reale Doktor R. dann Mitte der 1980er Jahre immer mehr in den gleichfalls realen Songwriter und Frontmann einer eigenen, alsbald auch über das bajuwarische Alpenvorland hinaus populären Folkrockband verwandelt, kriegt das Kindermädchen auch die zunächst noch häuslichen Proben der Musiker mit. Dabei fängt sie Feuer an einer noch kaum geahnten, schnell lockenden fremden Welt.
Sie selbst ist ein Trennungskind, lebt mit der „milde verpeilten Mutter“ erst bitterarm in einem Holzhaus halb im Wald. Weil sie Geld braucht und nicht nur in der Schule gut kopfrechnen kann, dockt Doris als Assi bei der Ringsgwandl-Band an. In ein leeres Schulheft notiert sie die Abendeinnahmen bei den ersten Gigs in Wirtshäusern oder Vereinshallen, sorgt für den „Merch“ sprich: das Merchandising mit den ersten Platten und Sogtexten – und da ist sie akkurater als die eher anarchisch-chaotischen oder auf Alk und Drugs abzischenden Künstler.
Ein Talent, das der schlaue Ringsgwandl sofort erkennt, der in seiner Doppelrolle als Oberarzt und an freien Abenden in wahnwitzigen Kostümen über die Bühne geisternder, virtuos zwischen Groteskrock und Bayernblues changierender Leader der Gang den Kopf nicht mehr frei hat fürs Geschäftliche.
So wächst Doris, die in Garmisch-Partenkirchen weiter ihr Abitur machen wird, in eine gleichfalls verrückte Doppelrolle hinein: als frühreife Mischung aus Schulmädchen und Backstagemanagerin, die nach den Konzerten erstmal nur Limo trinkt und unterwegs ihre Aufgaben in Deutsch oder Geo macht und von ihren Klassenkameradinnen teils gemobbt, teils verehrt und doch nie recht verstandenen wird. Natürlich spiegelt sich in dieser doppelten Doris auch der doppelte Georg (der irgendwann den Arzt an den Nagel hängt). Und wie Ringsgwandl seine eigene Biografie in der der Biografie eines Kindes und dann einer jungen Frau über den Zeitraum eines Vierteljahrhunderts spiegelt und durch deren Mund erzählt, ist ein veritables Kunststück.
Ein Roman über das Innenleben der Popmusik
Der Autor suggeriert, dass Doris neben dem Geschäftlichen in einem Laptop aus dem Ringsgwandl-Haushalt auch eine Art Tagebuch hinterlassen habe, nachdem sie im Jahr 2010 plötzlich wohl mit einem neuen Mann aus dem Leben der Band und der befreundeten Ringsgwandl-Familie verschwunden ist. Samt einer guten Viertelmillion, die sie als Schwarzgeld (wie auch manche Musiker im Buch) erst auf österreichischen, dann auf Schweizer Konten versteckt hat.
Es ist ein literarisches Roadmovie, das vom Glanz und Elend einer wie besessen von den Alpen bis zur Nordsee tourenden Band erzählt, von den Fahrten im roten „Metzger-Benz“ zu unsäglichen Käffern mit ihren versifften Spielstätten und Billigabsteigen bis hin zu den späteren Großstadthallen, Theaterhäusern und Festivalauftritten. Darin spielt die ungemein farbige, mal bayerisch grantelnde, mal in dramoletthaften Dialogszenen auch poetisch pointierte Sprache ihre ganz eigene Musik.
Zudem handelt der Roman intim professionell vom Innenleben der Popmusik, von den Tricks der Tonmischer bis zu korrupten Konzertveranstaltern, dem auf Tour teetrinkenden Mick Jagger (für Ringsgwandl insoweit kein Vorbild), von grapschenden TV-Redakteuren oder windigen Vermögensberatern. Doch selbst die auf den ersten Blick plakativ wirkenden Figuren haben hier meist einen doppelten Boden. Ringsgwandls Doris-Ton ist ohnehin wunderbar einfühlsam: voller Witz und Wehmut, Chuzpe und Gespür für die Psyche einer jungen Frau, für den (ihr gegenüber respektvollen) Machismo der Musiker und die Abgründe von Sex, Drugs and Rock’n’Roll, die Doris alias Georg R. sehr frei von erwartbaren Klischees wahrnimmt. So gibt es trotz aller Sinnlichkeit des Geschilderten keine wohlfeilen Groupiegeschichten.
Nein, auch Doris verkörpert nicht das, was der Titel zu verheißen scheint. Die „Tourneeschlampe“ entspringt vielmehr der beiläufigen Bemerkung eines Konzertbesuchers, die der selbstironischen jungen Frau gefällt: „Das wird mein Kampfname.“ Überhaupt ist diese Doris eher eine moderne Schwester der gleichnamigen Heldin in Irmgard Keuns vor knapp hundert Jahren erschienenem Roman „Das kunstseidene Mädchen“. Beide sind so gefühlvolle wie gewitzte Aufsteigerinnen, nicht unterzukriegen, auch nicht von trügerischem Glück.