Das ungleiche Traumpaar
Es gibt diesen großartigen Moment, in dem Angela Winkler als alkohol- und tablettensüchtige Mutter im zitronengelben Designerkostüm neben ihrem Rollator an der Reling eines gigantischen Schiffes steht, auf ihren Schriftsteller-Sohn Christian herunterblickt und ihm in kaltblütiger Sachlichkeit professionelle Ratschläge erteilt. „Lies doch mal Flaubert!“, ruft sie herunter. „Dann würdest du sehen, wie es geht!“
Klar, dass dieser Sohn, gespielt von Joachim Meyerhoff, der Mutter in nichts nachsteht. „Krank im Kopf“ sei sie, erzählt er dem Publikum der Berliner Schaubühne, um lakonisch nachzuschieben: „Nicht nur dort, aber dort vor allem.“
Der Regisseur Jan Bosse hat das Wagnis unternommen, Christian Krachts Roman „Eurotrash“ fürs Theater zu adaptieren, diesen ebenenreichen, verschachtelten, luzide die eigene Biografie und das eigene Erzählen reflektierenden (und immer wieder unterlaufenden) Zweihundertseiter, der – im Frühjahr erschienen – auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand.
Krachts Protagonist, ein Schriftsteller namens Christian, besucht darin seine schwerreiche Mutter in einer psychiatrischen Klinik und bricht mit ihr per Taxi zu einem Schweiz-Roadtrip auf, wobei die beiden, unter anderem, bei einer bizarren Nazikommune zwischenlanden, ein denkwürdiges Forellenmahl zu sich nehmen und sich vor allem viel Gelegenheit bietet, in die Familiengeschichte abzutauchen: zum Nazi-Groß- und zum Springer-Manager-Vater. Oder dazu, wie die Mutter als Elfjährige vergewaltigt wurde und ihren Sohn nicht davor bewahren konnte, dass ihm dreißig Jahre später dasselbe widerfährt.
Bosse macht die Erzählstruktur des Romans, das autobiografische Spiel, gleich zu Beginn in einem Bild klar – um damit sämtliche Fragen diesbezüglich für den Rest des Abends allerdings auch abzuhaken: Als Kracht-Lookalike entert Joachim Meyerhoff zunächst die Bühne und nutzt die ersten Minuten der Aufführung dazu, sich in aller Ruhe aus dem Autoren-Parka herauszuschälen, das angeklebte Bärtchen abzulegen und schließlich in einen dandyhaften türkisfarbenen Anzug zu steigen.
Bloß keinen Realismusverdacht aufkommen lassen
Was bleibt, ist eine hingebungsvoll verstrubbelte Blondhaarperücke. Bereitet wird so der Boden für einen überaus unterhaltsamen Abend, der die Komplexität des Romans sicher nicht vollends auslotet, sondern selbigen eher zum Anlass für ein hemmungsloses Schauspiel-Spektakel nimmt. Wer das akzeptiert, kann an diesem Abend wirklich überdurchschnittlich große Freude haben.
Denn Meyerhoff und Winkler, das ist unter den zahlreichen ungleichen Paaren, die das Theater so liebt und in entsprechender Frequenz auf die Bühne stellt, tatsächlich eines der großartigsten seit langem. Statt des Taxis gibt es hier – um erst gar keinen übertriebenen Realismusverdacht aufkommen zu lassen – besagtes riesiges Schiff, das eigens zu dem Zweck aus dem Schaubühnen-Boden heraufzufahren scheint, Meyerhoff und Winkler entsprechend überbordende Spielanlässe zu bieten. Dass das Geschichtenerzählen (ein bisschen wie in Ibsens „Peer Gynt“) die entscheidende Brücke zwischen Mutter und Sohn bildet, nimmt Bosse praktisch beim Wort und rollt seiner Ausnahme-Akteurin und seinem Ausnahme-Akteur damit den roten Teppich aus, auf dem die beiden zu brillieren wissen.
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Kein Rollator, keine Reling ist vor dem begnadeten Slapstick-Komiker Meyerhoff sicher, der – gleichermaßen multipler Ironiker – selbstredend auch keine textliche Pointe liegenlässt. Hier wird alles ausgekostet, verstärkt, spielerisch erweitert und mit der eigenen Kunst hemmungslos geklotzt. Logisch auch, dass Meyerhoff und Winkler aus dem Wechsel des Stomabeutels, den der Sohn am künstlichen Darmausgang der Mutter wiederholt vorzunehmen hat, einen knalligen Running Gag machen.
(Die nächsten Vorstellungen sind vom 21. bis 24. November in der Berliner Schaubühne)
Das Ereignis des Abends aber ist und bleibt Angela Winkler. Wie die Schauspielerin gleichzeitig Tragik und Würde, Altersstarrsinn und eine gänzlich pathosfreie, meilenweit von jedem Weinerlichkeitsverdacht entfernte Verlorenheit spielt, ist schlicht umwerfend. Und, ganz nebenbei – und komplett ohne vordergründige Labels zu bedienen –, steht hier tatsächlich auch mal eine dieser komplexen Frauenfiguren auf der Bühne, die zurzeit zu Recht allerorten eingefordert werden. Viel zu häufig erschöpfen sich diese aber in der Bühnenrealität in Parolen und Behauptungen.
Eine letzte schöne Pointe des Abends ist, wie der Autor Christian Kracht final zwar nicht in einem Parka, aber in einem optisch zumindest doch sehr verwandten Outfit zum Schlussapplaus auf die Bühne kommt und mit seinem Auftritt unfreiwillig auf den Anfang rekurriert, als Meyerhoff ihn noch imitiert hatte. Riesenjubel in der Schaubühne, sowohl für Kracht als auch für die Inszenierung. Und vor ganz besonders für dieses darstellerische Dreamteam.