Proustbetrieb: Allen mehr als ein Jahrhundert voraus
Es dauert ein Weilchen, bis man vom Haupteingang des Père Lachaise am Boulevard de Ménilmontant zum Grab von Marcel Proust kommt. Lang und mit einer gewissen Steigung erstreckt sich die Avenue Principale, und dann heißt es, fast ans Ende des riesigen Friedhofs in den Abschnitt 85 zu gehen, um das Grab neben einem anderen, viel größeren, aber auch verwitterteren zu entdecken.
Schwarz ist die Grabplatte von Proust und seiner engsten Familienangehörigen, ein Blumentopf und eine Vase mit Blumen stehen hinten, vorn ist eine Reihe von Kastanien angeordnet. (Kastanien?) Schlicht und modern wirkt das, kein Vergleich mit den mächtigen Grabmälern zum Beispiel von Oscar Wilde oder Balzac auf diesem Friedhof.
Dabei wurde Proust nach seinem Tod am 18. November 1922 mit militärischen Ehren zu Grabe getragen. Er war Ritter der Ehrenlegion. Die Trauerfeier fand am 21. November in der Kirche Saint-Pierre-de-Chaillot im 16. Arrondissement statt, einer römisch-katholischen Kirche, danach setzte man ihn auf dem im 20. Arrondissement gelegenen Père-Lachaise neben seinen Eltern bei.
Dass es eine katholische Beerdigung war, überraschte so einige, Prousts Mutter stammte nämlich aus einer jüdischen Familie. Der rechtsnationale Politiker und Schriftsteller Maurice Barrès soll dem Schriftsteller Francois Mauriac an diesem Tag zugeflüstert haben: „Ich dachte immer Marcel wäre ein Jude, was für eine schönes Begräbnis. (…) Ja, er war unser junger Mann.“
Und nicht nur das: Er war innerhalb von drei Jahren zu einem der bedeutendsten Schriftsteller Frankreichs geworden, seit dem Prix Goncourt 1919. Man Ray, Paul Helleu, die Gebrüder Daudet, Jean Cocteau und André Dunoyer de Segonzac eilten in Prousts Wohnung in der Rue Hamelin. Von Man Ray stammt das berühmte Foto des auf seinem Totenbett liegenden, vollbärtigen Proust, André Dunoyer de Segoncac fertigte eine Zeichnung an.
An seinem Grab auf dem Père Lachaise ist es an diesem Spätseptembernachmittag des Jahres 2023 ruhig. Ein junges Paar kommt vorbei und macht schnell ein Foto. Ob die beiden Proust-Leser sind?
An der einen Seite des Grabsteins stehen die Namen von Prousts 1903 verstorbenen Vater Adrien und von seiner Mutter Jeanne Weil, die 1905 starb; der Vater ein bedeutender Hygieniker, die Mutter eine der Hauptfiguren der „Recherche“. Auf der anderen stehen die von Prousts Bruder Robert, ebenfalls Mediziner, Nachlassverwalter bis zu seinem Tod 1935, und dessen Frau Marthe Dubois-Amiot.
Wie hat es Léon Daudet angeblich zu Prousts Haushälterin Céleste Albaret am Totenbett des Schriftstellers gesagt: „Er ist uns allen um mehr als ein Jahrhundert voraus gewesen. Nach ihm bleibt einem nichts mehr zu tun.“
Gerrit Bartels hat die Proust-Biografien von Tadié und Hayman gelesen, darin aber kein Wort zu den Begräbnisfeierlichkeiten gefunden.