Hansi Flick macht zu wenig aus seinen Möglichkeiten: Das sind die Fehler des Bundestrainers
Kurz vor der Pause hatte Kai Havertz nicht nur eine exzellente Idee, er setzte diese Idee auch exzellent in die Tat um. Havertz stieß mit dem Ball bis zur Grundlinie vor und spielte dann von dort einen perfekten Pass in die rote Zone vor dem kolumbianischen Tor. Es gab nur zwei Probleme.
Das erste Problem: Der Raum, in den Havertz den Ball spielte, war genau der Raum, den er als nomineller Mittelstürmer eigentlich hätte besetzen sollen. Und das zweite Problem: Selbst wenn sich Havertz nicht an der Grundlinie herumtummelte, war er nie in den Räumen zu finden, in denen ein nomineller Mittelstürmer zu finden sein sollte. Robin Gosens, der linke Außenverteidiger, schlug im Laufe des Spiels Flanke um Flanke in den kolumbianischen Strafraum. Sie landeten ausnahmslos im Nichts.
Etwas mehr als eine Stunde dauerte es, ehe Bundestrainer Hansi Flick das strukturelle Problem beseitigte und mit Niclas Füllkrug einen echten Mittelstürmer einwechselte. Der Anhang in der Arena auf Schalke goutierte diese Entscheidung offenkundig. Euphorie machte sich breit. Denn auch wenn der Bremer noch nicht allzu lange für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft spielt, hat er es längst zum Publikumsliebling gebracht.
„Ich glaube, dass ich der Mannschaft helfen kann“, sagte Füllkrug nach der 0:2-Niederlage gegen Kolumbien. „Ich glaube, dass ich eine Rolle einnehmen kann, die wichtig für die Mannschaft ist.“ Als Mittelstürmer hat er in seinen ersten sieben Länderspielen sieben Tore erzielt; insofern ist eine solche Einschätzung ausreichend durch Fakten gedeckt.
Und doch muss man inzwischen die Frage stellen, ob Hansi Flick das auch so sieht. Die jüngsten drei Länderspiele in den vergangenen zehn Tagen sprechen nicht unbedingt dafür. Gegen die Ukraine, noch dazu in seinem Stadion in Bremen, wurde Füllkrug zur Pause ausgewechselt. In Polen kam er in der 68. Minute, gegen Kolumbien in der 66. Minute.
Es war nicht die einzige seltsame Entscheidung des Bundestrainers. Und es ist immer offensichtlicher, dass sich Flick dadurch immer mehr in Bredouille bringt. „Die Ergebnisse…“, stammelte er im TV-Interview. „Was soll ich da sagen?“ Ein knappes Jahr vor der EM im eigenen Land nähert sich die Stimmung rund um die Nationalmannschaft einem neuen Tiefpunkt, und natürlich rückt der Bundestrainer fast zwangsläufig verstärkt in den Fokus. Zumal ihm auch schon die verkorkste WM in Katar angelastet wird.
Hansi Flick sei als Bundestrainer doch die ärmste Sau, sagte Rudi Völler, der seit Anfang des Jahres Sportdirektor beim Deutschen Fußball-Bund ist. Seine Hauptaufgabe sollte eigentlich darin bestehen, gute Stimmung und Vorfreude auf die Heim-EM zu verbreiten. Inzwischen aber ist der 63 Jahre alte Völler vor allem als Flicks Krisenmanager gefragt. Denn aus Hansi im Glück, dem bei den Bayern noch scheinbar alles gelingen wollte, ist längst Hans-Dieter im Unglück geworden.
Völler verteidigte den Bundestrainer auch nach der Niederlage gegen die Kolumbianer – indem er die Mannschaft beziehungsweise einzelne, nicht namentlich genannte Spieler in den Senkel stellte. Bemerkenswert für jemanden, der sich mal voller Verve gegen das Gerede von den immer tieferen Tiefpunkten der Nationalmannschaft zur Wehr gesetzt hat.
Die jüngsten Darbietungen seien „definitiv auch eine Qualitätsfrage“, erklärte Völler. Er habe das vielleicht anfangs zu positiv gesehen, „aber wir haben auch einige Spieler, die hängen ein bisschen hinten dran, und die werden es auch nicht schaffen für die Europameisterschaft“. Da müsse man jetzt gucken, „dass man die richtigen Spieler beim nächsten Länderspiel einlädt“.
Mal abgesehen davon, ob es wirklich an Qualität mangelt, wenn wie gegen Kolumbien sechs Spieler in der Startelf stehen, die schon die Champions League gewonnen haben: Die Auswahl des Kaders fällt in die Verantwortung des Bundestrainers. Genauso ist es seine Aufgabe, einer instabilen Mannschaft die nötigen Hilfen an die Hand zu geben: Automatismen, eine klare Systematik, ein personelles Gerüst.
Stattdessen hat Flick in den vergangenen Tagen so enthusiastisch an Taktik und Personal getüftelt wie ein Zwölfjähriger, der einen Chemiebaukasten zu Weihnachten geschenkt bekommen hat. Mit überschaubarem Erfolg. „Der Plan ging nicht ganz so auf“, sagte der Bundestrainer über seine Versuchsreihe ein Jahr vor der EM.
Der Plan mit der Dreierkette ging nicht auf. Der Plan mit Emre Can als zentralem Verteidiger ging nicht auf. Der Plan mit der falschen Neun ging nicht auf. Und der Plan mit Ilkay Gündogan irgendwo im linken Mittelfeld ging auch nicht auf.
Noch immer sucht der Bundestrainer die passende Rolle für den derzeit erfolgreichsten und angesehensten deutschen Fußballer. Im Grunde müsste es ausschließlich darum gehen, eine Variante zu finden, bei der Gündogan und Joshua Kimmich ihre Stärken gemeinsam auf den Platz bringen. Gegen Kolumbien aber saß Kimmich zunächst auf der Bank. Erst eine knappe Viertelstunde vor dem Ende wurde der Münchner eingewechselt – für Gündogan.
„Heute haben sie die ideale Mannschaft auf den Platz gebracht“, sagte Nestor Lorenzo, Kolumbiens Nationaltrainer über die Deutschen. Das war – hoffentlich – nicht ganz ernst gemeint, sollte aber vor allem die Wertschätzung für das Personal zum Ausdruck bringen, das seinem Kollegen Flick zur Verfügung steht.
Es ist Flicks Versäumnis, dass er aus diesen Möglichkeiten bisher eindeutig zu wenig gemacht hat. Der Bundestrainer weiß das selbst. Er weiß, dass er keinen Kredit mehr hat und keine Zeit für weitere Experimente. „Ich kann versprechen, dass wir im September eine andere Mannschaft sehen“, sagte er. Sonst könnte es doch noch passieren, dass wir vor der EM einen anderen Bundestrainer sehen.