Streitbare Themen beim Preis der Nationalgalerie
Musik, eine Bar, die Erfahrung „totalitärer Bürokratien“: So fluide wie in diesem Jahr war die Kunst auf der Shortlist der Nationalgalerie noch nie. Wenn die Arbeiten der fünf nominierten Künstler:innen nun im Hamburger Bahnhof zu sehen sind, dann künden sie auch von einer merklichen Verschiebung.
Die Praxis einer jüngeren, diversen Generation, zu der Lamin Fofana, Sandra Mujinga, Sung Tieu und das Duo Calla Henkel und Max Pitegoff gehören, zieht in die Institutionen ein.
Das ist ein Gewinn für alle, ganz unabhängig von der Frage, wem die internationale Jury in wenigen Wochen den Preis verleihen wird. Was die fünf in den Räumen inszenieren, balanciert in jedem Fall zwischen den Genres, überwindet tradierte Grenzen und liefert Stoff für einen Diskurs gern auch streitbarer Art.
Die Vorgabe, auf „souveräne und herausragende Weise in die zeitgenössische Kunst“ zu wirken und ihr „wichtige Impulse“ zu geben, die jene Künstler:innen unter 40 Jahren überhaupt erst auf die Shortlist gehievt hat, bringt ohnehin jede:r von ihnen mit.
Erfahrung Schwarzen Lebens im Westen
Fofana etwa agiert als Künstler und Musiker, in seinen Soundarbeiten fließt beides zusammen. Im Hamburger Bahnhof kommen im Fall der Installationen „Blues“ und „Ballad Air & Fire“ noch Licht, Gerüche und filmische oder fotografische Elemente von Projektpartnern des zwischen Berlin und New York pendelnden Künstlers hinzu.
Von dort stammt auch „Blues“: Das Werk war ursprünglich für eine Ausstellung im Baruch College geplant, die im vergangenen Jahr jedoch wegen Covid-19 schon am Tag der Eröffnung wieder schließen musste. In Berlin macht sie anhand von Tracks die „Erfahrung Schwarzen Lebens in der westlichen Welt“ auf subtile Weise zugänglich.
Calla Henkel und Max Pitegoff sind da weit offensiver. Das Duo hat in Berlin bereits mehrere Bars und Projekträume eröffnet, um an solchen Orten das Verhältnis von Leben, Performance und Repräsentation auszuloten. Dass es zunehmend schwierig wird, solche experimentellen Freiflächen überhaupt zu finden, spiegelt die aktuelle Fotoarbeit „Exteriors“ über die sich verändernde Stadt.
Als Material dient die allgegenwärtige Immobilienwerbung, Thema ist ihr Zuschnitt auf ein neues, kaufkräftiges Publikum bei gleichzeitiger Schrumpfung alternativer Räume. 2015 gab es für Henkel und Pitegoff den Ars Viva Preis, 2016 nahmen sie an der Berlin Biennale teil.
Vietnamesische Vertragsarbeiter in der ehemaligen DDR
Sung Tieu, 1987 in Vietnam geboren, lässt Geschichte wieder auferstehen, wenn sie sich anlässlich des Preises der Nationalgalerie mit dem Anwerbeabkommen zwischen der DDR und der Sozialistischen Republik Vietnam beschäftigt. In der Folge kamen an die 100 000 Vertragsarbeiter:innen in die einstige DDR.
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Mit dem Mauerfall endete das Abkommen abrupt, der Aufenthalt wurde illegal und das Schicksal der Vertragsarbeiter ein Spiel zwischen den Mächten. Die Künstlerin recherchierte für ihre multimediale Installation „Song for VEB Stern-Radio“ im Bundesarchiv, setzte sich mit den Vertragskonditionen und -formularen auseinander und überführt das Vergangene mithilfe von Texten und Klang in eine allgemeingültige Reflektion über das Verhältnis von Individuum und System.
[Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50-51, 16. 9. bis 27. 2., Di bis Fr 10 – 18 Uhr, So/ Sa 11 – 18 Uhr.]
Sandra Mujinga schließlich geht es um andere Grenzen. Sie dehnt den Begriff der Skulptur immer weiter, indem sie für ihre Arbeiten zwischen dem physischem und dem digitalem space wechselt. Ähnlich verhält es sich mit Begriffen wie Abstraktion und Figuration, Fiktionalem und Realität.
Die Auflösung solcher Kategorien birgt, genau wie die von Mujina verwendeten Materialien unterschiedlichster Herkunft und Qualität, neue Möglichkeiten einer künstlerischen Artikulation. Wohin das führt, ist vielleicht noch nicht sichtbar, aber es fühlt sich spannend an.