Planetare Krise: Abschiedlich leben!
Seit fast einem Jahr schallt uns das Wort des Kanzlers von der „Zeitenwende“ entgegen. Wir alle meinen, verstanden zu haben, dass es mit uns und der Welt nicht weitergeht wie bisher. Was aber tun? Neben den zweifelsohne nötigen Diskussionen, wie einem verrückt gewordenen russischen Diktator und anderen Aggressoren militärisch zu begegnen ist, sollte man aber auch intensiv über die mentalen Rahmenbedingungen nachdenken, die das gesamte Leben unseres Planeten betreffen. Epochale Umwälzungen bedeuten immer, dass sich die Menschen neu verzeitlichen.
Die erste Möglichkeit, in die neue Zeit zu kommen, ist, die alte Zeit zu verabschieden. Viele befinden sich schon in einem solchen Modus des Abschieds. So überlegen manche, was sie noch schnell mitnehmen können, bevor es nicht mehr geht.
Manch anderer schwingt sich in eine Untergangsstimmung ein, ohne darüber zu sprechen. Einige genießen das, was sie haben, in dem Bewusstsein, dass sie es ja noch haben. Andere werden schleichend depressiv, gleichgültig oder zynisch. Die wirtschaftlichen Eliten und Reichen dieser Welt spreizen sich nicht nur fröhlich weiter in ihrem Luxus, in ihren Superegos und der Überzeugung, dass ihnen alles zu- und offensteht, sondern sie bauen sich heimlich schon Unterschlüpfe für die Zeit danach: Inseln, Bunker und Anwesen in den nordischen Ländern. Und trotzdem leben wir gleichzeitig weiterhin in den bewährten Routinen.
Gespaltene Zeitwahrnehmung
Die Zeitenwende aber signalisiert, dass wir zunehmend eine gespaltene Zeitwahrnehmung haben: Dass wir die alte Zeit weiterhin als Gegenwart wahrnehmen und leben, obwohl sie schon Vergangenheit ist, kann man als erstarrten Präsentismus bezeichnen. Das bedeutet: Die Gegenwart wird als Vergangenheit gelebt, aber nicht erlebt. Wir leben also in einer Illusion, der Totenmaske unserer Jetztzeit. Diese Illusion verbindet sich mit einer meist unbewussten Nostalgie, die dazu verführt, so weiterzuleben wie bisher.
Zugleich aber wird das Weiter-So in den Routinen unseres Alltags aufgehoben. Leise schleicht sich in die Gemüter eine Mechanik des Weitermachens ein, eine Entleerung der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns, eine Aushöhlung der sozialen Systeme, die uns bisher Handlungsmacht und Selbstwirksamkeit, Wert- und Identitätsbildung garantierten. Wir werden langsam mürbe, geben innerlich auf, fühlen ein großes Umsonst. Das führt dazu, dass alle gesellschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritte im Kleinen nicht mehr als solche wahrgenommen werden, weil sich längst etwas Größeres ankündigt, das diese „Fortschritte“ mit sich fortzureißen droht.
Der Zeitpunkt, an den wir gekommen sind, markiert eine Wende. Diese Wende ist genau genommen eine Wegscheide. Denn das Mürbewerden der Subjekte, die große Müdigkeit, kennt zwei mögliche Ausgänge: Der eine würde sich mit einem bewussten Abschiednehmen, der andere mit einem Angesaugtwerden vom Abgrund verbinden. Der erste Ausgang, für den ich plädiere, würde darin bestehen, auf allen Ebenen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens anzuerkennen, dass die alte Zeit vorbei ist. Das würde bedeuten, einen bewussten und weitgehenden Einstellungswandel zu vollziehen. Dieser wäre nur durch ein ‚abschiedliches Leben‘ (Michael Theunissen) zu verwirklichen.
Radikale Transformation
Um nicht falsch verstanden zu werden: Es geht nicht um die Abschaffung aller Ordnungen, Traditionen und Institutionen, schon gar nicht der demokratischen, sondern darum, einen neuen Anfang, eine neue Zeitwahrnehmung auf breiter Ebene zu ermöglichen. Es geht um nichts weniger, als dass alle der planetarischen Krise tagtäglich ins Auge schauen und sich klar machen, dass wir nur gemeinsam – klassen-, nationen-, religions- und geschlechterübergreifend – und nur mittels einer radikalen Transformation unserer Lebensweise einer Zukunft, die den Namen auch verdient, entgegenblicken können. Eine neue Zeit ist nur möglich, wenn wir die alte, die vor allem von einer schonungslosen Ausbeutung von Natur und Menschen gekennzeichnet ist, schnell und entschlossen verabschieden.
Ich trete in diesem Sinne mit Nachdruck für ein auf allen Ebenen der Gesellschaft wirksames, abschiedliches Leben ein. Das aber gelingt nicht auf Knopfdruck, sondern will eingeübt werden. Der Verzicht auf eine verschwenderische, multioptionale Lebensweise wird uns allen nicht leichtfallen. Andererseits schafft der Verzicht auf materielle Optionen auch neue Räume, z.B. für die Intensivierung des inneren, geistigen Lebens oder für neue Formen der Zuwendung.
Die Alternative wäre grauenvoll. Auch sie kündigt sich schon in vielen Entwicklungen an. Sie wäre verbunden mit einem Sog in den Abgrund. Die weltweit agierenden autoritären und rechtsextremen Bewegungen, die auf mikro- und makropolitischer Ebene schon sehr einflussreich sind, haben keinen Begriff von Zukunft im oben genannten Sinne. Deren Protagonisten und Mitläufer setzen nicht auf Schonung von Mensch und Natur, sondern auf aggressive Mobilmachung. Sie sind dabei bereits von einer Endzeitstimmung durchdrungen, die sie dazu führt, sich selbst in einen Sog zu begeben, der sie und alle anderen in den Katastrophenschlund zieht. Sie haben eine extrem dynamische Zeitwahrnehmung, und zwar nach vorn – in den Abgrund.
Aufgabe als Subjekt
Erfasst sind sie alle auf ihre Weise von einer Ideologie, in die sie sich euphorisch hineinwerfen: in Erwartung einer gewaltigen Umwälzung. In diesem Zustand sind sie bereit für einen „Subjekttausch“, wie es der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich 1993 in einem Vortrag über „Sucht und Sog“ genannt hat. Heinrich beobachtet schon in den 1990er Jahren, dass sich immer mehr Menschen als eigenständige, vernunftgeleitete Subjekte aufgeben zugunsten einer Bewegung, eines „Ereignisses“, in dessen Bann sie sich fasziniert hineinbegeben.
Dieses Ereignis habe, so Heinrich, der Philosoph Heidegger im Vorfeld der nationalsozialistischen Machtergreifung als das „Nichts“ bezeichnet: „der Mysterienname für das Sein, dem alles Seiende zum Opfer gebracht wird“. Leider bekommen wir derzeit eine neue, schmerzhafte Vorstellung davon, was dieser archaische Nihilismus sein könnte. In den dreißiger Jahren war es Heinrich zufolge der „Opfergeist“ Hitler, der den Subjekttausch medial einübte, indem er sich als „erstes, oberstes Opfer inszenierte“.
Heute sind es andere Fascho-Patriarchen, die sich mit massiver medialer Propaganda als Opfer inszenieren, um sich für ihre imperialen Zerstörungsorgien fadenscheinig zu rechtfertigen. Die Leute, die sich diesen Führern anschließen, sind von einer Sucht erfasst, die darauf aus ist, alles aus dem Weg zu räumen, was ihnen als Hindernis im Weg steht. Sie arbeiten im Großen wie im Kleinen auf die Katastrophe hin und werden die Geschichte der Menschheit womöglich an ein definitives Ende bringen.
Es mag andere Auswege aus der globalen Krise geben. Viele informierte Einschätzungen zur globalen Situation festigen jedoch den Eindruck, dass die Zeit der Entscheidung gekommen ist.
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