Stille Tage im Milieu

Wer an diesem frühen Donnerstagabend draußen vor der Bar Kapital im Leipziger Westen steht oder sitzt, kann ihn kaum überhören und schaut unweigerlich auf. Ein roter und extrem getunter Porsche rast da gerade die Karl-Tauchnitz-Straße entlang in Richtung Waldstraßenviertel und Red-Bull-Arena.

Das Bild dieses schnell vorbei flitzenden Wagens vor dem Hintergrund des vielen Grüns im Johanna- und Clara-Zetkin-Park prägt sich nahezu unauslöschlich ein. Ob dieses rotgrün leuchtende Bild als Sinnbild der diesjährigen Leipziger Buchmesse gelten kann?

Einer Messe, die keine war, sondern wegen der Pandemie von vergangenen Mittwochabend an als das Festival „Leipzig liest extra“ in der sächsischen Metropole stattgefunden hat.

Ein Zeichen sollte dieses Festival sein, sozusagen Wiederaufbruchsstimmung erzeugen nach der im vergangenen Jahr komplett ausgefallenen Buchmessenausgabe, mit zwar überwiegend digital gestreamten Veranstaltungen ganz ohne Publikum, aber auch solchen mit, rund achtzig an der Zahl.

Clemens Meyer ist in der Stadt zu Lesungen unterwegs

Im Zuge zurückgehenden Inzidenzzahlen der vergangenen Tage hatte sich auch der Stuttgarter Verlag Klett-Cotta dazu entschlossen, zu einer kleinen, analogen Zusammenkunft in die Bar Kapital zu laden, natürlich „natürlich draußen, gesittet, regelgerecht, getestet usw.“, wie es in der kurzfristig verschickten Einladung hieß.

Hier, in der Bar Kapital, wurden in den vergangenen Jahren immer die sogenannten „Tropen“-Partys veranstaltet (Tropen heißt einer der Klett-Cotta-Unterverlage), und dabei herrschte in der überschaubar großen Bar regelmäßig eine drangvolle Enge, unvorstellbar nach 15 Monaten Pandemie.

Doch ein bisschen Buchmessenfeeling erzeugt selbst dieses vergleichbar sehr kleine, frühabendliche Verlagsstelldichein. Schon auf dem Weg zur Bar hatte man an einer Straßenbahnhaltestelle den Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer gesehen, der herumfrotzelte, was man denn hier in der Stadt wolle. Der dann aber sogleich anbot, sich später noch bei den Open-Air-Lesungen im Garten des Deutschen Literaturinstituts zu treffen.

In der Bar Kapital sitzen dann der Klett-Cotta-Verleger Tom Kraushaar und die österreichische Schriftstellerin Raphaela Edelbauer vor großen, offenen Fenstern an einem Tisch und plaudern. Später stößt der eine oder die andere dazu, und es kommt zu zufälligen Begegnungen und Bekanntschaften, wie man sie sonst aus den Messehallen kennt.

Kristof Magnusson schreibt über die Pet Shop Boys

Zum Beispiel mit Sophie Passmann, die am Nachmittag auf dem Blauen Sofa gelesen und danach noch für einen „Titel-Thesen-Temperament“–Beitrag vor der Kamera gestanden hatte.

Man stellt sich vor, gibt sich nicht die Hand und nickt sich zu, und schon geht es um die Vor- und Nachteile in Prenzlauer Berg oder in Neukölln zu wohnen und was nun alters- und szenetechnisch naheliegender ist.

Der Berliner Autor Kristof Magnusson kommt vorbei und berichtet, dass er an einem Buch über die Pet Shop Boys sitze, sein jüngster Roman „Ein Mann der Kunst“ sich gut verkaufe und er damit gut unterwegs sei.

Ähnlich geht es Raphaela Edelbauer, die sich über einen Mangel an Lesungen überhaupt nicht beklagen mag. Ihr neuer Roman „Dave“ werde gut angenommen, sagt sie. Einig sind sich Magnusson und Edelbauer, dass das Publikum auf Dauer sehr fehlt: das spürbare Interesse, der Applaus, die Nachfragen, die Bitten um Widmungen.

Edelbauer erzählt die bizarre Geschichte, wie sie einmal für einen Leser eins ihrer Bücher signiert habe und gebeten worden sei, dabei fotografiert zu werden. Einen Tag später sei ihr Fan abermals bei einer Lesung von ihr gewesen, um sich auch eben jenes Foto signieren zu lassen.

Ulrich Keicher bekommt den Kurt-Wolff-Preis

Danach wandert Edelbauer rüber ins nahe gelegene Literaturinstitut, nicht ohne noch zu erwähnen, dass sie tags drauf ihre Lesung im ARD-Forum habe absagen müssen und nach Wien zurückfahre: ein erster Impftermin. Die Pandemie, klar, sie beherrscht trotz einiger Lockerungen, auch diese Ersatzmesse, wie der Freitag beweist.

Eine Art Festivalzentrum ist die Kongresshalle am Leipziger Zoo, wo sich das ZDF mit seinem Blauen Sofa eingerichtet hat. Und wo die Eröffnungspressekonferenz und die Preisvergaben an Johny Pitts und László Földényi über die Bühne gingen. Doch während es am Ein- und Ausgang des Zoos bewegt zugeht, so als sei alles wie früher, bleibt vor und in der im Jahr 1900 ursprünglich als Gesellschaftshaus des Zoos errichteten Kongresshalle alles sehr überschaubar.

Unten ist ein Testzentrum eingerichtet und alles für Selbsttests vorbereitet. Und oben wird an diesem Freitagmittag in einem der fünfzehn Kongresshallensäle der Preis der Kurt-Wolff-Stiftung vergeben, vor einem Publikum, das zwanzig, fünfundzwanzig Personen zählt.

Der inzwischen mit 35.000 Euro dotierte Preis und der dazu gehörende, mit 15.000 Euro dotierte Förderpreis gehen seit 2001 jedes Jahr an zwei unabhängige deutschsprachige Verlag, so wie heuer an den im schwäbischen Leonberg beheimateten Verlag Ulrich Keicher und an die Edition Converso, die den Förderpreis bekommt.

Nachdem sich die Kurt-Wolff-Stiftungsvorsitzende Britta Jürgs nach ihrer turnusgemäß sechs Jahren dauernden Amtszeit verabschiedet und auch Monika Grütters per Video ihr Grußwort ausgerichtet hat, wird es eine unterhaltsame und angenehm zwanglose Verleihung.

Lothar Müller hält eine kenntnisreiche Laudatio

Lothar Müller hält eine kenntnisreiche Laudatio auf den ausschließlich im Literaturbetrieb bekannten, 1943 geborenen Keicher. Seit Anfang der achtziger Jahre verlegt dieser „moderne Literatur in Erstausgaben“, wie es auf seiner Website heißt, und zwar in sorgfältig gestalteten, in der Regel schmalen Bändchen.

Mag der Verlag eher unbekannt sein, so liest sich sein Gesamtverzeichnis wie ein Who is Who der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und Gegenwartslyrik, von Hermann Lenz bis Elke Erb, von Brigitte Kronauer über Lutz Seiler bis Christoph Meckel.

Als Keicher sich bedankt, wirkt das sympathisch zerstreut; mehrmals betont er, dass er kein Redner sei.

Trotzdem hält er immer wieder eine antiquarische Buchausgabe und noch eine in den Händen und erzählt zum Beispiel, wie er einmal in einem Antiquariat ein von Kurt Wolff herausgegebenes Büchlein mit griechischen Versen aus Goethes Zeit gefunden habe, „das stammt aus dem Jahr 1910, da war Wolff noch nicht mal Verleger.“

Monika Lustig versteht es im Anschluss ebenfalls, interessant aus ihrem Leben zu berichten und warum und wie sie, die viele Jahre in Florenz gelebt hat, dazu kam, sich seit 2018 mit ihrem Verlag bevorzugt dem mediterranen Sprachraum zu widmen.

Der Garten des Literaturinstituts ist gut gefüllt

Wie seltsam steif und förmlich geht es zwei Stunden später im großen Hauptsaal der Kongresshalle zu, als der Preis der Leipziger Buchmesse vergeben wird! Arg gezwungen befragt Messedirektor Oliver Zille die jeweiligen Preisverkünder aus der Leipziger Politik, darunter Oberbürgermeister Burkhard Jung; routiniert wird ihm geantwortet.

Nur gut und wenigstens einmal abweichend vom starren Prozedere der Verleihung, dass der Juryvorsitzende Jens Bisky zuvor erwähnt hatte, dass er erstmals seit vielen Jahrzehnten wieder in der Kongresshalle stehe, damals sei er Gast bei einem Schulkonzert von Kurt Masur gewesen.

Die digital übertragene Verleihung in dem riesigen leeren Saal, immerhin in Anwesenheit der Jury, zeigt symbolhaft, dass das Festival „Leipzig liest extra“ eben doch ein nur sehr unzureichender Ersatz für das sonstige Summen und Brummen in der Stadt ist.

Treffen gibt es kaum, alle die gekommen sind, um zu lesen, zum Beispiel auch Eckhart Nickel, Thea Dorn oder Zoë Beck, sind in ihren eigenen Bahnen und Separierungen unterwegs.
Immerhin: Im Garten des Literaturinstituts ist es Abend für Abend trotz wechselhaften Wetters mit knapp hundert Menschen gut gefüllt. Natürlich hält man Abstand, und Wein oder Bier muss man mitbringen. Konzentriert hört das überwiegend junge Publikum ehemaligen Studierenden des Instituts wie Esther Becker, Olga Grjasnowa oder Janna Steenfatt zu.

Es ist ein bestimmtes Milieu, das sich hier trifft, auch der DLL-Professor Josef Haslinger ist da, und doch vermitteln gerade diese drei Gartenabende, dass 2022 vielleicht wirklich alles wieder beim guten Alten in Leipzig sein könnte.