„Catherine called Birdy“ von Lena Dunham : Wie „Girls“ im 13. Jahrhundert

Der jüngste Anwärter auf die beste Eröffnungsszene in einem Kostümfilm beginnt – in Zeitlupe – mit einer klassenschrankenübergreifenden Schlammschlacht zur Neunziger-Hymne „Alright“ von der britischen Popband Supergrass. Der braune Matsch auf Gesichtern und Kleidung macht die Ungleichen für einen Moment ein wenig gleicher, so müsste man sich vielleicht Woodstock im 13. Jahrhundert vorstellen ­– oder, um auf der Insel zu bleiben, ein sehr verregnetes Glastonbury. Wem der Name Supergrass heute nichts mehr sagt, erinnert sich sicher noch an ihren einzigen Hit und das zugehörige Video. Ein Trio junger britischer Lads auf Bonanzarädern singt eine euphorische Hymne darauf, was es heißt, im Jahr 1995 ein junger britischer Lad zu sein.

Bella Ramsey aus „Game of Thrones“ in der Hauptrolle

Von dieser selbstverständlichen Freiheit kann die zwölfjährige Catherine aus einem hochverschuldeten Adelsgeschlecht, selbst wenn sie beide Hände genussvoll in ein Schlammloch taucht, nur träumen. In „Catherine called Birdy“ singt die britische Musikerin Misty Miller eine folkige Interpretation von „Alright“ (sowie den halben Soundtrack): ein erster Hinweis darauf, dass Regisseurin Lena Dunham ein paar Anpassungen an die britische heritage Literatur à la Jane Austen ­– sowie am jungslastigen Britpop der Neunziger – vorgenommen hat.

Für Dunham hat sich die Hoffnung, Stimme einer Generation zu werden, damals noch in selbstironischer Verzweiflung aufgeworfen, als Bürde erwiesen. Vor zehn Jahren war das, in der ersten Staffel der HBO-Serie „Girls“ – was in Streamingjahren gerechnet eine halbe Ewigkeit bedeutet. Die heute 36-jährige Dunham hat zu spüren bekommen, was es für eine junge Frau bedeutet, mit solchen forschen Forderungen in einer Öffentlichkeit zu bestehen, die nichts lieber tut als junge Frauen wegen ebensolcher (eigentlich) Selbstverständlichkeiten besonders zu taxieren. Oder ist es ein Zufall, dass nicht die Serien-Erfinderin, sondern ihr männlicher Ko-Star, Adam Driver, heute in Hollywood als Everybody’s Darling gilt?

Catherine (Bella Ramsey, in ihrer ersten Hauptrolle seit „Game of Thrones“), wegen ihrer Vogelvernarrtheit von Freunden und Eltern „Birdy“ genannt, ist eine jüngere Version von Dunhams „Girls“-Figur Hannah ­– nur 800 Jahre früher, und statt im Hipster-Viertel Brooklyn lebt „Birdy“ in der nordenglischen (natürlich gottgesegneten) Grafschaft Lincolnshire.

Ansonsten hat sich für junge Frauen nur wenig verbessert; und ja, Zwölfjährige galten damals schon als junge Frauen, weswegen ihr eitler und ständig betrunkener Vater Lord Rollo (Andrew Scott, der „heiße Priester“ aus „Fleebag“) seine Tochter dringlichst mit einem reichen Mann verheiraten muss, um das Familienanwesen zu retten. Catherines Alltag, auf Anraten ihres älteren Bruders Edward, einem Mönch, in Tagebuchform erzählt, besteht im Wesentlichen darin, ihre aufsteigenden pubertären Wallungen auszuleben und dabei die Avancen älterer Männer, eine Parade von Monty-Python-Karikaturen, möglichst geräuschvoll abzumoderieren.

Onkel George (Joe Alwyn) zeigt Catherine (Bella Ramsey) ein paar nützliche Tricks fürs Leben.
Onkel George (Joe Alwyn) zeigt Catherine (Bella Ramsey) ein paar nützliche Tricks fürs Leben.
© Alex Bailey/Prime Video

Es mag ein Zufall sein, dass Lena Dunham und Greta Gerwig, die einstigen It-Girls eines New Yorker Post-Hipstertums, zuletzt feministische Romane über die im weitesten Sinn britische Klassengesellschaft (wenn man das Mittelalter schon so nennen möchte) verfilmten. „Catherine called Birdy“ und „Little Women“, auch wenn zwischen ihren Vorlagen fast 150 Jahre liegen, haben einen sehr speziellen Blick auf Britishness, die sich mit dem Tod der langlebigsten Regentin vielleicht tatsächlich endgültig erledigt hat. Karen Cushmans vielfach ausgezeichnetes Jugendbuch ist natürlich auch eine Parodie auf eine gewisse Form von historischer Fiction, die in den Achtzigern im britischen Kino einen Ivory-Merchant-Boom auslöste.

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Dunham überführt in ihrer vierten Regiearbeit die altklug-kindliche, bei aller Lakonie immer wieder Bauklötze staunende Stimme von Cushmans Titelfigur in eine hemmungslos anarchische Feelgood-Komödie, der die Bürde, Klassensprecherin irgendeiner Generation sein zu wollen, nicht mehr anzumerken ist. Und Bella Ramsey macht „Catherine called Birdy“ zu ihrem Film.

Sie manövriert Catherine ungestüm und bockig durch die hormonüberschüssige Achterbahnfahrt genannt Pubertät, in der der sexy Onkel (Joe Alwyn) eine gute Partie wäre und Edwards Mönchsbrüder unter ihren Kutten Wuschelfrisuren und Sixpacks verbergen. Mit zwölf muss man noch für niemanden Anderes sprechen außer für sich selbst. Aber „Catherine called Birdy“ verfügt auch dank Dunham über eine Weisheit weit über das Alter seiner Protagonistin hinaus.

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