Die Wildnis im kühlen Licht des Experiments

Wenn Hunter Sterling jemanden sehen will, steigt er in seinen Helikopter, landet, wo gerade Platz ist, stolziert direkt ins Haus, überreicht mit großer Geste Champagner und Kaviar. Er hält sich für willkommen, ganz klar. Denn er ist Hunter Sterling, Milliardär. „Midas“, seinen legendären Hedgefonds, hat er kurz vor dem Zusammenbruch von Lehman Brothers verkauft. Danach gründete er „Digitas“, eine Risikogesellschaft für digitale, technologische und wissenschaftliche Unternehmen. Die Welt liegt ihm zu Füßen. Und er hofft, auch Lucy Russell werde das bald tun.

Er hat sie angeheuert, um das Londoner Büro von „Digitas“ zu leiten. Dass sie ihm Widerworte gibt, gefällt ihm. Das ist er nicht gewohnt. Ihre Mischung aus „Stärke und Verletzlichkeit“ zieht ihn an und weckt neben seinem Jagd- auch seinen Beschützerinstinkt. Und wie es der Zufall will, werden Lucys Abwehrkräfte gegen männliche Übernahmeangebote empfindlich geschwächt. Kaum ist sie von New York zurück nach London gezogen, bekommt sie eine Krebsdiagnose. Ausgerechnet an dem Organ, dem sie ihren sozialen Aufstieg verdankt, ausgerechnet dort, wo ihr Denken sitzt, ihr Bewusstsein, ihre Persönlichkeit. Der Hirntumor ist nicht ganz so aggressiv wie ein Glioblastom, aber aggressiv genug, um ihr Leben zu gefährden. Sie lässt sich auf Hunters Angebot ein: umsorgt wie von einem Sugardaddy vertrödelt sie die Tage zwischen den Therapien auf „Le Plein Soleil“, seinem nach der Ripley-Adaption von René Clément benannten Anwesen in Südfrankreich. Gelegentlich wechselt man an die kalifornische Pazifikküste von Big Sur, auf eine Ranch mit dem gleichfalls cineastisch inspirierten Namen „Apokalypse Now“. Lucys Vater war Alkoholiker, die Mutter psychisch krank. In New York hatte sie einen vermögenden Freund. Doch es passte ihr nicht, wie selbstverständlich er davon ausging, dass eine Frau wie sie seinen Heiratsantrag nicht ausschlagen könnte. Also schlug sie ihn aus.

[ Edward St Aubyn: Dilemma. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Piper, München 2021. 288 Seiten, 24 €.]

Über alle politischen Unterschiede hinweg gäbe es eine „grundlegende Verbundenheit der Reichen“, heißt es einmal. Das Fluidum des Reichtums ölt auch die Erzählmaschine von Edward St Aubyn, der 1960 in eine ziemlich dysfunktionale Familie des britischen Hochadels hineingeboren wurde. Er ist eloquent und hat seine Mittel im Griff. Smart surft er auf den Wellen eines gut gezügelten Redeschwalls, erfindet interessante Charaktere, verbindet sie mit brennenden Themen und verknüpft sie elegant mit Motiven, die ihnen literarischen Tiefgang geben. „Dilemma“, treffsicher übersetzt von Ingo Herzke, ist in der Tat ein seltsames Leseerlebnis. Denn es ist unbestreitbar ein angenehmes Gefühl, so versiert durch verschiedenartige Terrains geleitet zu werden. Klimawandel und Biodiversität, KI und Robotertechnik, Quantenmechanik, Genomsequenzierung, Neuroimaging und Epigenetik – dieser Roman lässt nichts aus.

Erstes Treffen im Renaturierungsprojekt

Dabei sind Hunter und Lucy nicht unbedingt die Hauptpersonen. Ebenso wichtig sind Olivia, die mit Lucy in Oxford studiert hat, und Francis, der ebenfalls Biologe ist und sich nach den ersten Tierversuchen auf Botanik spezialisierte. Olivia hat gerade ein Buch über Epigenetik beendet. Francis arbeitet in einem Renaturierungsprojekt in Sussex. Sie haben sich auf einer Konferenz kennengelernt und waren sofort voneinander angezogen. Der Roman beginnt mit dem ersten Wochenende, das sie gemeinsam verbringen – in Francis’ kleinem Haus, das mitten in dem Gebiet steht, das durch Renaturierung in einen Zustand der Wildnis zurückwuchern soll. Genau dort landet später auch Hunters Helikopter, als Francis, kaum sind er und Olivia ein Paar, die Geliebte dabei unterstützt, ihre beste Freundin durch die Labyrinthe der Krankenhaus-Welt zu begleiten. Die Rekonvaleszenz nach geglückter OP verbringt Lucy im Cottage, umsorgt von Olivia und Francis. Mit ein paar Telefonaten hat Hunter herausgefunden, warum sich seine neue Mitarbeiterin krankgemeldet hat.

Olivia ist die Tochter eines Psychoanalytiker-Paars und Schwester eines klinischen Psychologen. Das Haus in Belsize Park, in dem sie aufwuchs, ist das Inbild eines lebendigen Gebäudes. Die Eltern bewohnen es mit Hingabe und Gelassenheit, sein im Lauf der Jahre gestiegener Wert hat sie nie interessiert. Olivia wurde als Kind adoptiert. Auch deshalb hat sie ein akutes Interesse daran, nachzuweisen, dass Gene keineswegs Schicksal sind und die „utopiegläubige Millenniumsbegeisterung“ für das Humangenomprojekt von Craig Venter eine Nebelkerze war.

Ob es der Krankenhaus-Sprech ist, der mal in forscher Mischung aus gespielter Fröhlichkeit und Appell an die Eigenverantwortung, mal in scheinbar nüchternem Worst-Case-Szenario auf die Patientin einprasselt, oder die Interpretation der Hirn-Scans: St Aubyn nutzt die Figurenzeichnung immer auch zu Zwecken der Wissenschaftsdarstellung und des Gesellschaftsromans. Das titelgebende „Dilemma“ (im Original heißt der Roman „Double Blind“) lässt sich nicht nur auf den Konflikt beziehen, in den Martin Carr, Olivias Vater, gerät, als er ahnt, dass sein neuer, extrem schwieriger Schizophrenie-Patient Sebastian der Zwillingsbruder seiner Tochter sein könnte, der noch eine Zeitlang bei den überforderten Eltern lebte. Dilemmata und Paradoxa gibt es an jeder Ecke.

Es fängt schon beim Renaturierungsprojekt an. Denn natürlich ist es paradox, „eine Landschaft zurück in die Wildnis zu zwingen“. Und es wird durch das Anthropozän keineswegs weniger paradox, wie Francis sich einzureden versucht. Mag im Yellowstone-Nationalpark die Rückkehr der Wölfe ein ganzes Ökosystem wieder ins Gleichgewicht gebracht haben, so entsteht doch außerhalb geschützter Parks und Zonen Konfliktpotential. Überall dort, wo sich die Rückkehr der Wildnis nicht einfrieden lässt, sondern ihrem Begriff alle Ehre macht und die Zivilisation überwuchert.

Nomen est Omen – hier trifft es zu

Edward St Aubyn taucht die Wildnis in das kühle Licht des wissenschaftlichen Experiments. In „Dilemma“ wird alles zu „Projekten“, also zu Angelegenheiten, in die man investieren kann. Scheitern sie, nun denn, dann wagt man ein neues Experiment oder steckt sein Vermögen in vielversprechendere Projekte. Wie Jonathan Franzen in seinen Romanen und Essays lässt St Aubyn die franziskanische Haltung einfließen. Alle Nomen sind in diesem Roman Omen. Nicht nur Francis wird durch seinen Namen mit Franziskus, dieser „globalen Ikone der Authentizität“, in Verbindung gebracht. Es gibt auch einen franziskanischen Pater, den Hunter mit einem Aufenthalt in „Plein Soleil“ bis zur Willenlosigkeit in weltliche Genüsse einführt. „Glückshelme“, die Gehirnströme beeinflussen, gehören zu den Technologien, in die „Digitas“ investieren will.

Edward St Aubyn, der mit seiner autobiographisch inspirierten Melrose-Trilogie bekannt wurde, verfügt über eine präzise Sprache für Bewusstseinsphänomene. Wenn der koksende Hunter nach einer Geschäftsreise quer durch Europa auf einen Herzinfarkt zusteuert, den er mit einem hochdosierten Betablocker gerade noch abwenden kann, so ist seine Panik ebenso eloquent beschrieben, wie wenn Francis auf einer wichtigen Geschäftsparty mit Psilocybin experimentiert.

Das „kraftvolle Mykhorriza-Netzwerk“, das Bäume und Pilze verbindet, ist in diesem Roman ein Bild für nicht hierarchisch strukturierte Formen des Zusammenhalts. Aber am Ende siegt dann doch das globale Netz des Investmentkapitals. Elon Musk lässt aus Grünheide grüßen.