Das Jack Quartet im Berliner Boulez Saal: Die Klangforscher

Wer sagt denn, dass Neue Musik vor allem dem höheren Ernst frönt? Das New Yorker Jack Quartet zerstreut gleich mit dem ersten Stück im Boulez Saal die Furcht davor, dass es anstrengend werden könnte.

Erin Gees erst in diesem Jahr entstandenes  „Mouthpiece 39“ geht zwar der durchaus philosophischen Frage nach, was Stimme und Artikulation dem Wesen nach sind und was bei der Entstehung eines Tons eigentlich geschieht. Aber die gebürtige Kalifornierin macht sich einen Spaß daraus. Die Bögen hüpfen auf den Saiten, die Finger sausen für schnelle Glissandi hoch zur Schnecke und hinunter zum Steg, während die Instrumentalisten gleichzeitig von ihren Stimmbändern Gebrauch machen, pfeifen, wispern, zischen, grunzen, grummeln. Immer fein, leise, in kurzen Phrasen.

Wie zarte Gaze wehen die surrealen Klänge durch das hölzerne Oval des Boulez Saals. Man denkt an Zeichentrick-Soundtracks oder an Kinder, wenn sie hochkonzentriert bei der Sache sind und ihr Lieblingsspielzeug auseinandernehmen. Ab und zu sirrt eine Spiralfeder.

Das inzwischen aus den Geigern Christopher Otto und Austin Wulliman, dem Bratscher John Pickford Richards und dem Cellisten Jay Campbell bestehende Ensemble (der Name Jack Quartet setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der Gründungsmitglieder zusammen) hat sich seit seinen Anfängen 2005 der Gegenwartsmusik verschrieben, häufig arbeitet es eng mit den Komponisten zusammen. Die Folge: Die dissonanten, mikropolyphonen, mikrotonalen und für unsere konservativen Ohren allemal befremdlich anmutenden Kompositionen spielen sie so selbstverständlich und mit einnehmendem Charme, als sei’s Barockmusik. Vorbehalte lösen sich auf der Stelle in Luft auf.

In „Celare“ (2014/15) des türkischstämmigen Cenk Ergün stellen sie sich der Frage, was einen Klang im Innersten zusammenhält. Unendlich behutsam stapeln sie Töne übereinander, nachdem die Finger zunächst ohne Bogeneinsatz stumm auf den Saiten vibrierten.

Ist das jetzt unisono? Harmonie, was ist das eigentlich?

Während die Stimmung in Iannis Xenakis’ „Ikhoor“ von 1978 (dem ältesten Werk an diesem Abend) ins Aggressive kippt, mit gewittrigen Cello-Passagen und gnadenlosen Messerstichen, die an Hitchcocks „Psycho“ gemahnen, glaubt man in Eric Wubbels zweiteiligem „phrēn“, ein seltsames Akkordeon zu hören. Langsam anhebende, repetierte und minimal variierte Akkorde, von kurzen Pausen unterbrochen, mal eherne, mal changierende Klangsäulen – schwingende Luft.

Ist das jetzt unisono oder doch leicht „unsauber“? Was ist das eigentlich, Einklang, Harmonie? Man gerät ins Meditieren, und das Publikum steuert Mucksmäuschenstille bei, bis das Stück im zweiten Teil erbittert zu pulsieren beginnt.

Auch das virtuoseste Werk des Programms stammt von einem Amerikaner. George E. Lewis‘ String Quartet No. 4.5. mit dem Zusatztitel „Partial Truth“ wurde vom Jack Quartet im April dieses Jahres in New York uraufgeführt. Staccati, Pizzicati, Flageolett, kantige Konturen, scharfe Klangmischungen, mal säuselt das Cello, mal knarzen, mal quietschen die Saiten – ein wilder Ritt ins Sphärische. Vier Musiker, die unaufhörlich auseinanderdriften und sich wieder zusammenraufen, das lässt sich auch politisch lesen. Als Versuch über die Mühe und das Glück der Verständigung in einer sich spaltenden Welt.

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