Tatoos, Terror und Techno: Das große Bum, Bum, Bum
Der Wille zum Anderssein gehörte seit jeher zu den wichtigsten Treibstoffen der Popkultur. Junge Menschen schmierten sich Pomade ins Haar, spielten elektrisch verstärkte Gitarren in bis dahin unerhörter Lautstärke, beschrifteten ihre T-Shirts mit anarchistischen Parolen. So entstanden Rock’n’Roll, Beatmusik und Punk. Es ging darum aufzufallen, und spätestens, wenn es nichts Besonderes mehr war, eine Irokesenfrisur zu besitzen oder auf Plateauschuhen herumzulaufen, musste dringend wieder etwas Neues erfunden werden.
Bis die Neunzigerjahre begannen und diese Regeln auf einmal nicht mehr zu gelten schienen. Der Politologe Francis Fukuyama verkündete das „Ende der Geschichte“ und eine neuartige elektronische Tanzmusik wurde populär, die Techno, in Deutschland anfangs auch Tekkno genannt wurde. Techno verstand sich, schreibt Jens Balzer, „als erste Sub- oder Jugendkultur, die nicht über das Prinzip der Distinktion oder des Ausschusses funktioniert“.
Die Loveparade, bei der sich Tanzende hinter Sattelschleppern, auf denen DJ-Sets thronten, durch den Berliner Tiergarten bewegten, wurde zu einer Massenveranstaltung mit bis zu 1,5 Millionen Teilnehmern. Der Schriftsteller Rainald Goetz schwärmte von einem „Beat, der die vielen vielen versetzt synchron bewegte“, einem „Herzschlag, pumpend, für ein ganzes Kollektiv“.
Allerdings ging die Geschichte nach dem Untergang des Kommunismus ganz anders weiter, als Fukuyama es vermutet hatte. Und der Techno-Beat schlägt zwar immer noch, aber deutlich leiser. Auf den Hype folgte die Verästelung in Subgenres und der Rückzug in die Nische.
Euphorie des Aufbruchs
„No Limit“ heißt das Buch von Jens Balzer über die Neunziger. Im Titel schwingt die Euphorie einer Umbruchszeit mit, in der die meisten Menschen zumindest der westlichen Welt davon ausgingen, dass nachher nicht viel so sein würde wie zuvor. Die Eckpfeiler des „Jahrzehnts der Freiheit“ – so der Untertitel – waren der 9. November 1989 und der 11. September 2001.
Zwischen Mauerfall und den Terroranschlägen von New York und Washington schien vieles möglich. Wer alt genug ist, um sich an die Neunziger zu erinnern, weiß, dass der Höhenflug kollektiver Entgrenzungsfantasien nicht lange währte. Die ravende Gesellschaft hatte ihr Momentum, doch im Morgengrauen kamen die Müllwerker, die den Dreck wegräumten.
Mit „No Limit“ schließt Balzer, der zu den besten deutschen Popkritikern gehört, eine Epochen-Trilogie ab, die mit „Das entfesselte Jahrzehnt“ (2019) über die Siebziger- und „High Energy“ (2021) über die Achtzigerjahre begann. Pop ist eine Sphäre, in der die Gegenwart ständig gegen die Vergangenheit rebelliert. Die Synthiepopper der Achtziger haben den Progrock der Siebziger gehasst, ähnlich wie die Progrocker abschätzig herabblickten auf das naive Geschrammel der Beatpioniere.
Das Disruptive der Neunziger war vielleicht noch größer. Balzer spricht von einem „Jahrzehnt, in dem alle Außenseiter sein wollten“. Ein Paradox, denn das Außerseitertum ist eigentlich ein Privileg der Minderheiten. Der Zeitgeist zeigt sich im Umgang mit dem eigenen Körper. Tätowierungen, eben noch das Outkast-Kennzeichen von Seefahrern und Kriminellen, werden populär. Am Ende des Jahrzehnts muss man sich, so Balzer, „fast schon wieder dafür rechtfertigen, wenn man nicht tätowiert oder gepierct ist“.
Der „Slacker“ wird zur Leitfigur, eine Art postmoderner Eckensteher, der unzufrieden ist mit dem Zustand der Welt, sich aber nicht dazu aufraffen kann, etwas dagegen zu unternehmen. Der amerikanischer Regisseur Richard Linklater hat ihm mit seinem gleichnamigen Film über eine Gruppe antriebsarmer Twentysomethings ein Denkmal gesetzt.
Das ökonomische Gegenstück zum Slacker ist die Ich-AG, eine euphemistische Wortschöpfung für Arbeitslose, die sich nun nicht mehr als Sozialhilfeempfänger sehen sollen, sondern als selbstständige Unternehmer. Die von Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ ließen auf sich warten. 1997, ein Jahr vor seiner Abwahl, erreichen die Arbeitslosenzahlen mit fast viereinhalb Millionen einen Rekord.
„Hello, hello, hello, how low“, so lauten die Kernzeilen der Nirvana-Hymne „Smells Like Teen Spirit“, die 1991 herauskommt. Balzer übersetzt sie mit „Hallo, hallo, hallo, wir sind nicht gut drauf“. Mit ihrem Album „Nevermind“ verdrängt die Band des charismatischen Sängers Kurt Cobain den Dancefloor-König Michael Jackson vom ersten Platz der US-Charts.
Sie werden zum Aushängeschild eines Rock’n’Roll-Revivals, das den Namen Grunge (auf Deutsch etwa: Dreck, Schmutz, Schlamm) bekommt. Mit ihrer von der US-Kritikerin Ann Powers als „Kastrationsblues“ titulierten Musik wenden sich Nirvana gegen den eigenen Körper, die eigene Existenz. Vom Erfolg ist Cobain dermaßen überfordert, dass er sich 1994, wie Balzer es drastisch formuliert, mit einer Schrotflinte „das Gehirn aus dem Kopf schießt“.
Pop als Seismograf
Pop ist das Prisma, durch das Jens Balzer auf die Welt blickt. Ein bunt schillernder Seismograf, der gesellschaftliche Erschütterungen registriert. Aber sein Buch erschöpft sich nicht in Popgeschichten. Einige zentrale Musikereignisse wie das spektakelhafte, durchaus auch chauvinistische Britpop-Duell der Bands Blur und Oasis oder der Aufschwung deutschsprachiger Popbands unter dem Label der Hamburger Schule lässt er ganz weg. Überraschend ist, wen er als interessanteste Band des Jahrzehnts nominiert: die Spice Girls.
Girlgroups wie die Andrew Sisters oder die Supremes gab es seit den Vierzigern. Neu an den Spice Girls ist, das jeden der fünf Sängerinnen einen individuellen Charakter verkörpert und zugleich eine andere Epoche der Popkultur zitiert. Geri Halliwell alias „Sexy Spice“ etwa erinnert mit ihren kurzen Röcken und hohen Stiefeln an das Jahrzehnt der sexuellen Befreiung, die Sixties. Victoria Adams (später Beckham) steht als „Posh Spice“ in ihren Gucci-Minikleidern für die vornehme Eleganz der Gegenwart. Laut Balzer sind die Spice Girls „zugleich postmodern-progressiv und antimodern reaktionär“.
Vieles, was vor dreißig Jahren passierte, erscheint verblüffend aktuell. Nach der Wiedervereinigung kippte, wie Balzer süffisant anmerkt, die Stimmung zügig. Euphorie schlug um in Wut, die sie in gewaltsamen Angriffen auf Migranten in Solingen, Rostock, Hoyerswerda und Mölln entlud. Allein beim Brandanschlag auf ein Wohnhaus in Solingen starben fünf Menschen, darunter drei Kinder.
Kanzler Kohl nahm nicht an der Trauerfeier teil und ließ ausrichten, er habe „weiß Gott andere wichtige Termine“. Wenige Tage zuvor hatte der Bundestag eine Verschärfung des Asylrechts beschlossen. Auch nach der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015 kam es wieder zu Brandanschlägen und Übergriffen. Die Reaktion der Politik: eine erneute Einschränkung von Grundrechten, diesmal als „Asylkompromiss“ auf europäischer Ebene. Geschichte ereignet sich offenbar in wiederkehrenden Kreisläufen.