Die Invasion begann schon vor acht Jahren

10.8.2022

„Ich glaube, ich stehe vor Deinem Haus“, lautet die Nachricht in meinem Messenger. Oh, ist es schon 12? George ist aber vorbildlich pünktlich! Als wir uns gestern Abend verabredeten, habe ich ihm den Kuchen aus der ältesten Bäckerei in meinem Kiez versprochen, musste aber vor 25 Minuten feststellen, dass sie geschlossen ist und bin mit meinem Rad zur zweitältesten gefahren, wo ich jeweils ein Stück Käse- und Apfelkuchen geholt habe und es sieht gerade so aus, dass die Tour im Fahrradkorb dem Apfelkuchen nicht gut getan hat. Eine Schande!

Ich lasse George rein und denke dabei: Er ist so jung, er könnte nicht viel älter als mein Sohn Boris sein, der 17 ist. Nach einem sehr intensiven Schuljahr zeltet Boris gerade mit seinen Freunden in Brandenburg, während George gestern aus Charkiw gekommen ist. Er hat die letzten drei Monate in der Ukraine verbracht – nicht nur in meiner Heimatstadt, sondern auch in Lwiw, Kiew, aber auch in Zaporizhia und Mykolajiw und ich glaube nicht, dass ich schon mal einen Amerikaner gesehen hätte, der die Namen der ukrainischen Städte so spannungsfrei aussprechen könnte. Und wenn er sie ausspricht, fällt es mir auch ein, dass es auch die richtige, die ukrainische Schreibweise ist, die im Westen leider noch nicht überall angekommen ist.

Probleme mit Apfelkuchen

Er interessierte sich schon lange für die Ukraine und wollte eines Tages dahin reisen, erzählt mir George, der in den USA seinen Abschluss in Politikwissenschaft machte, er hat sich sogar endlich die Flugtickets gebucht, aber als der Tag seines Fluges kam, flogen nach Kiew keine Passagierflugzeuge mehr. Das hat George aber nicht aufgehalten, sagt er und versucht dabei, das Stück auseinanderfallenden Apfelkuchen auf seinen Teller zu legen.

Im Zug aus Polen nach Lwiw hat er einen Landsmann kennengelernt, der vorhatte, sich der Internationalen Legion der Territorialverteidigung anzuschließen. Eigentlich wollte es George auch tun, jedoch hat es sich für ihn dann anders ergeben. In den drei Monaten, die er in der Ukraine war, hat er einiges gemacht – geholfen, wo er konnte, da wo man Hilfe brauchte – Lebensmittel und Medikamente geliefert, viel bei den Evakuierungen mitgemacht – die Netzwerke der ehrenamtlichen Helfer sind gut ausgebaut und ziemlich effektiv, behauptet er.

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Laut George sind gerade viele Amerikaner dort unterwegs. „Das ist doch uramerikanisch, zu sagen, da braucht man mich, da gehe ich jetzt hin und, direkt ins Auto zu steigen und loszufahren. Manchmal übertreiben meine Landsleute damit, aber in diesem Fall finde ich es eigentlich in Ordnung.“

Er redet davon, wie schön er Lwiw und Kiew fand, was für tolle Städte es sind, und wie es ihm fast schon leid tut, obwohl es sich ein bisschen gemein anhört vielleicht, dass er Charkiw nicht vor dem 24. Februar besuchen konnte. Noch etwas fällt mir dabei auf – öfter höre ich in Deutschland Stimmen, für die dieser Krieg erst im Februar 2022 angefangen ist. Für die Ukrainer aber begann er vor acht Jahren mit der Annektion der Krim und der Okkupation vom Donbass. Um zu differenzieren, nennt man die aktuellen Ereignisse „groß angelegte Invasion“. George bezeichnet sie jedoch als „der Versuch der groß angelegten Invasion“. Das finde ich toll.

Ruinen in Charkiw

Auch in Saltivka war er, dem Wohngebiet im Nordosten von Charkiw, das öfter als die anderen beschossen wurde. „Kaum ein Haus, was nicht getroffen wäre. In jedem klafft mindestens ein schwarzes Loch, manchmal mehr.“ Der Typ, mit dem er sich im Zug nach Lwiw angefreundet hat, ist vor wenigen Wochen im Donbass gefallen.

Er sollte unbedingt Freunden und Mitbürgern davon berichten, was er in der Ukraine erlebt und gesehen hat, meine ich zu George. Ja, das will er auf jeden Fall machen. Wir verabschieden uns, George verspricht, sich im Oktober bei mir zu melden, vor seiner nächsten Reise in die Ukraine, die er fest plant. Erstmal geht’s nach Hause, Geld verdienen, weiter Ukrainisch lernen.