Cannes-Festival startet mit Depp-Comeback : Höfische Rituale am Rande des roten Teppichs
Man muss vielleicht nicht zu viel hineininterpretieren in diesen Auftakt. Aber einer gewissen Ironie entbehrt es nicht, ein Filmfestival mit einem Historiendrama über eine dahinsiechende Regentschaft zu eröffnen – in einem Jahr, das laut Cannes-Chef Thierry Frémaux eigentlich für einen Wandel stehen soll.
In Interviews hatte Frémaux für Cannes sogar bereits eine neue Phase von 2023 bis 2027 ausgerufen, so als handele es sich bei einem Filmfestival um ein Superhelden-Franchise. Oder wollte Frémaux damit indirekt schon das Ende seiner eigenen Regentschaft über das Weltkino einleiten?
Mit dem Wandel ist das allerdings so eine Sache. Gemessen am Eröffnungsfilm „Jeanne du Barry“ von der französischen Regisseurin Maïwenn lässt sich wohl eher konstatieren, dass er sich in die Tradition von Cannes-Eröffnungsfilmen einreiht: pompöses Starkino mit Schauwerten, aber betulich erzählt und somit breitenwirksam genug, um den Film vom Festival aus direkt großflächig in den französischen Kinos zu starten (die Anforderung für Eröffnungsfilme an der Croisette).
Aber auch der Star des Films lässt sich nur schwer mit einem Mentalitätswandel in Verbindung bringen: Dass Frémaux dem in Hollywood in Ungnade gefallenen Johnny Depp in Cannes eine Bühne für sein Comeback bietet, wird außerhalb von Frankreich durchaus kritisch gesehen.
Der Chef selbst hatte in der Pressekonferenz am Montag zu dem Thema gesagt, dass ihn Depp nur als Schauspieler interessiere. Die Vorwürfe des häuslichen Missbrauchs seiner Ex-Frau Amber Heard stehen aber auch nach dem Prozess weiter im Raum, zumal Depps zynisches Auftreten vor Gericht seinem Image beträchtlichen Schaden zugefügt hat.
Johnny Depp spielt in „Jeanne du Barry“ den König Louis XV., den vorletzten vorrevolutionären Herrscher Frankreichs, der über ein höfisches System verfügt, das ihm einen nicht abreißenden Nachschub an jungen Frauen zum Zeitvertreib beschert. Wer da spontan an Jeffrey Epstein denkt, liegt nicht ganz falsch.
Depp gibt den notgeilen Herrscher aber sehr johnnydepphaft als superselbstironischen Machthaber mit allerhand Spleens; zum Beispiel dürfen sich seine Untergebenen nur in Tippelschritten rückwärts von ihm entfernen. Mit anderen Worten: Sein promiskuitiver König, der zum Ende seines Lebens im Volk nur noch „der Ungeliebte“ genannt wurde, bleibt eine völlig unproblematische historische Figur.
Für eine Zeitenwende ist es auch nicht unbedingt ein zeitgemäßer Ansatz, so skurril-affirmativ über höfische Rituale und Intrigen zu erzählen; erst recht nicht nach wirklich großartigen Filmen wie „The Favourite“ oder „Corsage“.
Und insbesondere nicht, wenn es der Regisseurin eigentlich um eine Geschichte von weiblichem Empowerment geht. Maïwenn spielt gleichzeitig auch die Titelfigur, ein Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, das sich als Kurtisane einen Namen in der hohen Gesellschaft macht und schließlich sogar dem König imponiert. Jeanne wird nach Versailles beordert, wo sie zur „Lieblingsmätresse“ des Königs aufsteigt. Maïwenns Jeanne ist sozusagen eine sozial aufwärts mobile Sexarbeiterin, die sich – nach eigenem Bekunden – nicht für jeden nackig macht.
Eine Frau im Schatten ihres Königs
Damit hat es sich dann aber schon mit der weiblichen Selbstermächtigung, die sich ansonsten nur noch darin äußert, dass Jeanne ihr Haar zu zeremoniellen Anlässen gerne offen trägt. Sehr zum Unwillen vor allem der Töchter des Königs, die die „Unwürdige“ bei jeder Gelegenheit mobben und selbst die angeheiratete Marie Antoinette in ihre Intrigen verwickeln.
Von weiblicher Solidarität gibt es in „Jeanne du Barry“ jedenfalls keine Spuren. Das wiederum passt zu Maïwenn, die ihre eigene Aufsteigerbiografie als Kind einer algerischen Mutter ebenfalls als Triumph einer Einzelkämpferin versteht; und MeToo auch nicht als einen Fehler im System, sondern als Ausdruck von mangelndem Durchsetzungsvermögen und übertriebenem Anspruchsdenken. Was man anderen Frauen eben so vorwerfen kann, die keinen König an ihrer Seite haben. (Maïwenn heiratete mit 18 den Starrregisseur Luc Besson.)
Insofern startet das 76. Cannes Filmfestival, bei dem erstmals sieben Regisseurinnen im Wettbewerb stehen, mit einem deutlichen Misston. Maïwenn fühlt sich – wie ihre Figur Jeanne – im Kreis mächtiger Männer, die immer noch über die Geschicke in der französischen Filmindustrie entscheiden, sichtlich wohler als in der Gesellschaft von Frauen, die für ihr Recht auf Gleichbehandlung und Teilhabe kämpfen.
In diesem Jahr macht König Thierry immerhin sieben von ihnen seine Aufwartung. Er sagt zwar, dass er dafür keine Dankbarkeit erwarte – aber wie ein kleiner Sonnenkönig fühlt er sich dabei schon.
Und dabei hätte das Festival um ein Haar gar nicht stattgefunden. Catherine Deneuve, die von der Moderatorin der Gala, ihrer Tochter Chiara Mastroianni, als Überraschungsgast auf die Bühne gebeten wird, um den Ehrenpreisträger Michael Douglas zu würdigen, trägt in Andenken an den andauernden Krieg in der Ukraine ein Gedicht der ukrainischen Dichterin Lessia Oukraïnka vor.
Sie will gerade wieder von der Bühne eilen, als den Umstehenden noch einfällt, dass sie das Wichtigste vergessen hat: nämlich den offiziellen Beginn des Festivals zu verkünden. In bewegten Zeiten wie diesen habe solche Rituale nun mal eine stabilisierende Funktion.