Rappen, singen, kämpfen
28. August 2022
Im Literarischen Colloquium am Wannsee war ich zuletzt 2019, als ich an der Lesung von Anastasiia Kosodiis „Timetraveler’s Guide To Donbass“ teilnahm, für mich eines der stärksten ukrainischen Theaterstücken der letzten Jahren.
Am Samstag bin ich wieder da gewesen – diesmal waren Katya Tasheva und ich eingeladen, zum Abschluss des Sommerfests ein kleines Konzert zu spielen. In den letzten sechs Monaten fällt es mir schwer, meine Auftritte vorzubereiten – einige Songs, die jahrelang zu meinem Repertoire gehörten, kommen mir unpassend vor, auch in meiner Muttersprache russisch zu singen, kann ich mir nicht mehr vorstellen.
Kazma Kazma war für mich eine der originellsten Bands der Welt
Am schwülen Samstagabend im LCB entscheiden wir uns für eine Auswahl ukrainisch-jüdischer Lieder sowie für das im März geschriebene „Russian Warship, Go Fuck Yourself!“. Beim Refrain macht das Publikum enthusiastisch mit.
Der Rückweg vom Wannsee nach Prenzlauer Berg dauert ewig, ein S-Bahn Zug fällt aus, der nächste kommt erst in 37 Minuten. Um nicht einzuschlafen beschließe ich, die Nachrichten im Messenger zu beantworten. Zur Zeit bekomme ich viel Post, versuche aber, nicht jede freie Minute mit meinem Handy zu verbringen, mein Sehvermögen hat sich dieses Jahr deutlich verschlechtert, stellte ich neulich fest.
Aber sobald ich auf Facebook ein Video vom gestrigen Auftritt Foa Hokas in Hamburg entdecke, muss ich es sofort anschauen! Das Ganze hat etwas Irreales, und ich kann es kaum glauben, obwohl ich genau weiß – die Jungs von Foa Hoka sind hier, und am 2. September spielen sie sogar im Panda Theater in Berlin!
Foa Hoka war die erste auf Ukrainisch singende Band, die ich 1990 mit 15 live erlebt habe. Charkiw blühte auf, es gab viele experimentelle Bands, die eigenartige, verrückte Musik machten – eine Szene im wahren Sinne des Wortes, in der die Musikerinnen in verschiedenen Konstellationen unter anderen Bandnamen miteinander gespielt haben. Wie etwa Dmytro Kurovsky von Foa Hoka, der parallel noch mit Kazma Kazma musizierte.
Ich bin überzeugt, dass Kazma Kazma eine der originellsten Bands der Welt war. Mal klangen ihre Songs wie die Musik des Mittelalters, mal wie die frühen Talking Heads, ihre Auftritte waren zugleich Theaterperformances. Nach den wilden Neunzigern hatte Evgen Hodosh, der Vordenker des schrägen Orchesters, allerdings genug. Er machte seinen Abschluss an der medizinischen Hochschule und wurde Zahnarzt. Dmytro hat hingegen nie aufgehört, mit immer neuen Foa Hoka-Besetzungen Alben in seinem Studio in Tschernihiw zu produzieren.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten zum Krieg in der Ukraine live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Im Frühling musste ich immer an ihn denken, wenn ich Nachrichten aus der Stadt las. „Mein Bezirk wurde von russischen Eindringlingen schwer beschädigt. In unserer Straße wurde es heftig gekämpft,“ schrieb er mir neulich. „Die Häuser vieler meiner Nachbarn wurden zerstört, ich hatte aber Glück, mein Haus steht noch, das Studio ist in Ordnung. Im Hof sind noch Muschelsplitter zu finden.“ Heute bestehen Foa Hoka aus Dmytro und Evgen, sie arbeiten wieder zusammen – wie einst in Charkiw.
So viele Auftritte ukrainischer Künstler wie jetzt gab es in Berlin noch nie, denke ich, als ich am Sonntag vom U-Bahnhof Brandenburger Tor die Treppe hochlaufe und dabei die Töne von TNMK erkenne. Tanok Na Maydani Kongo, kurz TNMK, sind Pioniere des ukrainischen Hip-Hop, sie rappen seit 26 Jahren.
Charkiw nannte man in den späten Neunzigern „Rapacity“, aber nur ganz wenige wagten damals, auf Ukrainisch zu rappen. Noch ein Fun Fact – Fagott, einer der beiden MCs von den TNMK, hat vor seiner Rap-Karriere bei Kazma Kazma Fagott gespielt.
Heute werden die MCs vom spontanen Chor der Ukrainerinnen Berlins begleitet. Es wird laut mitgesungen und reichlich gespendet. Seit Beginn der großangelegten Invasion russlands kämpfen drei der fünf TNMK-Musiker – Fagott ist bei der Territorialen Verteidigung, der Bassist bei der der Nationalgarde und der Gitarrist bei den Streitkräften der Ukraine. Die kaum zu fassende Realität von heute!