Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (66): Charkiw ist die glücklichste Stadt der Welt

14. September 2022

Immer wieder habe ich Maxim geschrieben und manchmal antwortete er, nie länger als ein, zwei Sätze. Einmal haben wir kurz telefoniert, als mein Projekt The Anti-DicKtators im März ein Cover für die erste Single brauchte, dachte ich, vielleicht könnte Max es für uns zeichnen, aber nach unserem kurzen Gespräch wollte ich ihn nicht belästigen.

Er klang deprimiert, ich habe ihn noch nie so erlebt. Im Gegenteil, in all den Jahren, die wir uns kennen, kam mir Maxim vor wie einer der lebensfröhlichsten Menschen dieser Welt. So gut wie immer wirkte er glücklich und – das war ansteckend.

Als jemand, der lieber alleine unterwegs ist (weil ich genau weiß – was ich sehen möchte, finden die Anderen nicht unbedingt spannend, zum Beispiel die Plattenläden), bin ich nie Fan von Stadtführungen gewesen. Trotzdem war ich gespannt, als ich vor einigen Jahren von den Führungen in Charkiw gelesen habe – weil ich es mir schwer vorstellen könnte. Paris, Rom, Madrid klar, aber Charkiw?

Wer macht da mit, fragte ich mich, so viele Touristen kommen doch nicht in die Stadt? Jedoch Bilder und Berichte darüber tauchten immer öfter in meinen Facebook- und Instagram-Account auf, es stellte sich heraus, dass zu Führungen überwiegend die Charkiwer selbst hingehen und dass sie davon begeistert sind. Auf den Fotos, umgeben von Hunderten lächelnden Menschen, stand in der Mitte Maxim Rozenfeld. Als ich meine Freunde fragte, ob sie ihn kennen würden, war die Antwort immer positiv, alle kannten und liebten Maxim.

Vielleicht ist es eine ulkige Gedächtnisstörung, aber bei einigen Menschen, ohne die ich mir mein Leben heute nicht vorstellen mag, kann ich mich nicht erinnern, wie wir uns kennengelernt haben. Es fühlt sich so an, als ob wir uns schon immer kannten, auch wenn ich genau weiß, das ist nicht der Fall, wie bei Maxim. Aber bei meinen Charkiw-Besuchen in den letzten Jahren haben wir uns fast täglich gesehen, ich war bei ihm zu Hause, er kam zu mir in die Residenz im Slovo-Haus, und auch in Berlin unterhielten wir uns stundenlang in meiner Küche.

Und immer fiel ihm etwas ein zu den Orten, wo wir uns getroffen haben, denn Maxim ist nicht nur ein begabter Storyteller, er ist auch eine wandelnde Enzyklopädie. Er kennt sich mit der Architektur aus, aber auch mit der Geschichte, mit Kunst sowie mit Literatur, er hat tollen Sinn für Humor und zitiert ständig aus Büchern und Filmen – ihm zuzuhören ist ein Vergnügen ohnegleichen.

Als er mich im Oktober 2021 zu seiner Führung eingeladen hatte, konnte ich natürlich nicht nein sagen und folgte ihm dann drei Stunden durchs Zentrum von Charkiw. Wir blieben bei den Gebäuden stehen, die ich zu kennen glaubte, weil ich sie oft gesehen habe, aber zu jedem hatte Max eine spannende Geschichte, seine Führung hatte die Intensität einer aufwendigen Netflix-Serie. Man sah, er ist in diese Stadt verliebt, er kennt hier jede Ecke und möchte seine Gäste auch darin verlieben lassen.

Ich denke oft an Maxim, wenn ich Nachrichten aus Charkiw lese, die Nachrichten von der Beschießung und der Zerstörung. Wie geht er damit um, frage ich mich. Aber als ich ihn am Dienstagabend höre, klingt seine Stimme munter. „Warum sollte sie eigentlich nicht munter sein?“, lacht er.

„Du kannst Dir nicht vorstellen, wie toll es gerade in Charkiw ist, was für eine tolle Zeit das ist! Charkiw bleibt ein Kraftplatz! Und was für Menschen, Yura, ich habe nie so viele lächelnde Gesichter in der Stadt gesehen, Wahnsinn!“ Spannend, es ist nicht das erste Mal, dass Charkiw von heute mir so beschrieben wird.

„Kennt man die Geschichte, so weiß man, es war schon immer so, dann fühlt es sich nicht mehr so traurig an!“ Maxim denkt viel an die Zukunft, sagt er, an die Zukunft Charkiws nach dem Sieg der Ukraine. Als Mitglied eines Rats bei der Stadtverwaltung arbeitet er an Strategien für den Wiederaufbau der Stadt, darüber diskutiert er regelmäßig mit Experten wie dem Stararchitekten Norman Foster. Und ich habe das Gefühl, es gäbe keinen anderen Ort auf der Welt, wo er gerade glücklicher gewesen wäre.

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