Thriller „Night of Lies“: Wald ohne Ausweg
Elm Castle wirkte auf den ersten Blick wie das Life Goal einer jeden Hobbyprinzessin. Die Wahrheit jedoch war, dass dieses nicht einmal hundert Jahre alte Schloss der Knechtung unerwünschter Jugendlicher diente.“ Das ist der erste Eindruck von Elm Castle, dem Eliteinternat tief in einem Wald in North Carolina, in das die 17-jährige Leah von ihrer Mutter gebracht wird.
Leah ist die Ich-Erzählerin in Hanna Bergmanns Thriller „Night of Lies“, ihrem ersten großen Roman nach dem Zweiteiler „Agathe“, der bei einem kleinen, inzwischen aufgelösten Verlag erschienen war. Ihrem Roman vorangestellt ist eine Playlist von Songs, die sie beim Schreiben gehört hat.
„Willkommen, du miese kleine Ratte. Willkommen am einzigen Ort, den du dir lieber nicht ausgesucht hättest“, lautet der erste Satz des Prologs, offensichtlich ein Text aus einem Post oder Brief. Man versteht den Zusammenhang zunächst nicht, aber der Ton ist gesetzt: Elm Castle ist trotz Elitestatus kein Ponyhof.
Es herrscht eine merkwürdig beklemmende Atmosphäre hier, ein scheinbar strenges Regiment der Direktorin, die der begeisterten Joggerin Leah gleich zu Beginn mit auf den Weg gibt, dass der Wald tabu sei.
Schon bei ihrem ersten Lauf setzt sich Leah über das Verbot hinweg und trifft bald auf einen verwirrten, blutverschmierten jungen Mann, der ihr einen gehörigen Schrecken einjagt. Es ist Rune, der Bruder der Jahrgangssprecherin Hartlyn, wie sich später herausstellt.
Damit nicht genug, Leahs Zimmernachbarin Carter ist im Internat gefürchtet, eine Zicke, mit der niemand klarkommt. Eine andere Mitschülerin bietet ihr an, solange in ihrem Zimmer Unterschlupf zu finden, bis die Ferien vorbei sind – dann muss Leah zurück zu Carter.
Klingt erst einmal nach einem üblichen Internatsroman, aber Bergmann hat mehr vor. Sie entwirft einen spannenden Kriminalplot. Die Protagonistin wird rasch in eine Clique aus Jungs und Mädchen aufgenommen, alle aus besserem Haus, Kinder reicher Eltern. Manch einer gibt Leah zu verstehen, dass sie eigentlich nicht hierhergehört.
In starken Dialogen treibt Bergmann die Handlung voran, Leah ist nicht auf den Mund gefallen, weiß sich der dummen Sprüche und der Intrigen zu erwehren – und natürlich verliebt sie sich in einen der Jungs. Es geht scheinbar um die üblichen Intrigen und Spielchen an solch einem Internat.
Aber bald bemerkt Leah, dass es ein Geheimnis gibt, das mit Rune, dem Wald und dem Märchen von den sogenannten Nebelfrauen zusammenhängt. Und dann ist da noch vor zwei Jahren nach dem Sommerfest ein Mädchen im Wald verschwunden. Seitdem ist der Wald für die Schüler:innen tabu.
Hanna Bergmann, die Sprach-, Kultur- und Literaturwissenschaften studierte, hat offensichtlich Edgar Allan Poe gelesen und sich sein Konstruktionsprinzip zu eigen gemacht. Das vordergründig Einfache stellt sich im Laufe des Romans als kompliziert heraus, und das scheinbar Komplizierte als das Einfache. Bei allen Volten, die die Geschichte auf den 480 Seiten schlägt, wird eines deutlich: Nichts ist so, wie es scheint.
Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind eine kostbare Währung. Das lernt die Protagonistin unter Schmerzen sehr schnell. Freundschaften und Allianzen können wechseln, schneller als man denkt. Als Leser ist man auf Leahs Einschätzung der Personen angewiesen – und wird genauso wie Leah über deren wahre Beweggründe getäuscht.
Natürlich will Leah das Geheimnis um Rune und das verschwundene Mädchen lüften, sie wundert sich, dass niemand wirklich Interesse an der Aufklärung zu haben scheint. Da sie aber penetrant recherchiert, bringt sie sich selbst in große Gefahr. Leah stellt sich den Herausforderungen, auch wenn es weh tut. „Night Lies“ ist ein Roman, den man nicht mehr aus der Hand legt.