Ausstellung im NS-Dokumentationszentrum: Queer und anders
Zigarette, Frack, Fliege und Zylinder: So androgyn trat Marlene Dietrich 1930 in Sternbergs Film „Marokko“ auf und küsst frech eine Frau. Die 40 Sekunden lange Szene, damals ein Skandal, ist in der Ausstellung in einem Filmausschnitt zu sehen.
„To Be Seen. Queer Lives 1900 – 1950“ im NS-Dokumentationszentrum München zeigt die Vielfalt diverser Lebensentwürfe zwischen Kaiserreich, Weimarer Republik und Nachkriegs-BRD. Sie erzählt von schillernden Künstlerkarrieren, von neuen Freiheiten und dem politischen Kampf der 1920er Jahre bis hin zur Verfolgung und Zerschlagung in der NS-Zeit.
Wie queere Fotografie stereotype Geschlechteridentitäten aufbrechen kann, beweist die noch bis zum 18. Januar laufende Ausstellungsreihe „Queerness in Photography“ bei C/O Berlin . In den Sammlungen des Filmemachers Sébastien Lifshitz und der US-Künstlerin Cindy Sherman sowie der von Tilda Swinton kuratierten Ausstellung „Orlando“ mischen sich in schillernden Farbfotografien Realität und Fiktion.
Die Münchner Schau bietet dagegen viel dokumentarischen Stoff, der die politische und gesellschaftliche Dimension des „Queerseins“ beleuchtet. Es geht um Identitäten und Freiräume, um Selbstermächtigung, den Kampf um „Normalität“ – und um Netzwerke, die sich zwischen den beiden Weltkriegen bildeten und von den Nazis zerstört wurden.
Vor allem aber erzählt die Ausstellung von berührenden Schicksalen – etwa von den Transgender-Pionieren Gerd Katter und Lili Elbe. Der erste wurde 1910 als Frau geboren und starb 1995 als Mann, die zweite war als Mann und Maler so unglücklich, dass sie sich einer der ersten Geschlechtsoperationen unterzog und 1931 an den Komplikationen daran starb – als Frau. Der Film „The Danish Girl“ von 2015 handelte von ihrer Lebensgeschichte.
Da ist Anita Augspurg, Deutschlands erste promovierte Juristin, die mit ihrer Lebensgefährtin Sophia Goudstikker 1887 ein Fotostudio in München eröffnete, das zum Treffpunkt für Emanzen wurde. Da ist die Kabarettistin Claire Waldoff, die mit Berliner Schnauze in den Nachtclubs ihre Liebe zu Olga besang. Sie trällerte zur Musik von Friedrich Holländer „Wat die Männer können, können wir schon lange“.
Da sind die Münchner Vorkämpfer der Schwulenbewegung August Fleischmann und Karl Heinrich Ulrichs, der sich als Jurist für die Rechte von Homosexuellen einsetzte. Und der jüdische Forscher Magnus Hirschfelds, der mit seinem privaten Berliner „Instituts für Sexualforschung“ Leuten in sexuellen Nöten half.
Es gab eine neue Sichtbarkeit und ein Selbstbewusstsein der queeren Szene, die auch den Mainstream beeinflusste.
Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums
„Es gab eine neue Sichtbarkeit und ein Selbstbewusstsein der queeren Szene, die auch den Mainstream beeinflusste“, erklärt Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums. „Menschen entschieden selbst, wie sie leben wollten.“
Vor allem in den Großstädten entstanden Treffpunkte. Das Nachtleben der Reichshauptstadt Berlin überstrahlte alles. Denn die Polizeibehörden verfolgten dort seit Ende des 19. Jahrhunderts einen liberaleren Kurs als andernorts. Nahezu 200 subkulturelle Orte sind zwischen 1919 und 1933 nachgewiesen, davon rund 80 für lesbische Frauen.
Doch das Gesetz blieb streng. Artikel 175, der erst 1994 abgeschafft wurde, drohte Männern, die intim waren, mit Gefängnis. In Österreich war auch Sex zwischen Frauen strafbar.
Man erfährt viel über die Codes, mit denen sich queere Menschen verständigten, und die Orte, an denen sie sich heimlich trafen – die Vereine, Clubs, Zeitschriften und Lokale der jeweiligen Communities. Es gab Modeateliers für Lederkorsetts und Herrenkleider, in der sich jeder nach seinen Vorlieben einkleiden konnte – Frauen im Frack, Männer in Damenunterwäsche.
Man traf sich in Szenelokalen wie dem „Eldorado“ in Berlin-Schöneberg, wo auch Schauspielerinnen wie Anita Berber und Marlene Dietrich verkehrten, aber auch der prominente Nationalsozialist Ernst Röhm, der sein Schwulsein verbarg. Nach seiner Ermordung in der Münchner Strafanstalt Stadelheim 1934 begann die offene Verfolgung von Homosexuellen.
Aber schon damals war das, was wir heute queer nennen, immer anders. Gleichgeschlechtlich Liebende nannten sich lesbisch oder Freundin, homosexuell oder Bubi. Die Identitäten waren so vielfältig wie heute der Begriff LGBTIQ*, also lesbische, schwule, bisexuelle, Trans- sowie Interpersonen. Hierfür liegt in der Ausstellung ein nützliches Glossar aus, dass die Begriffe von binär bis pansexuell, von Maskulinismus bis Eonismus, also dem Bedürfnis von Männern, Frauenkleidung zu tragen, erklärt.
Während die dokumentarische Ausstellung „To be seen“ das erste Stockwerk belegt, sind dazu Werke aktueller Künstler auf die sechs Stockwerke verteilt. Zu sehen sind etwa die Fotografie „Queer Lives“ von Wolfgang Tillmans mit einem sich küssenden Männerpaar und das Kettenhemd „Wall Necklace Piece“ von Pauline Boudry und Renate Lorenz. Die Großskulptur hängt vor einem Fenster mit Blick auf den früheren Führerbau, der heutigen Musikhochschule.