Was bringt uns die Künstliche Intelligenz? : Erinnerungen an die Zukunft
Elon Musk schreibt auf Twitter: „Goodbye, homework.“ Eine Kolumne in der „New York Times“ hat die Überschrift: „This Changes Everything“. Ein Produktmanager der BBC prophezeit: „Der Journalismus wird sich in den nächsten drei Jahren stärker verändern, als er es in den vergangenen 30 Jahren getan hat.“
Es geht um Künstliche Intelligenz (KI), um Begriffe wie „ChatGPT“, „Large Language Models“, „Prompting“. Eine neue Welt tut sich auf, deren Dimensionen sich allenfalls ahnen lassen. Enthusiasten und Apokalyptiker befehden sich. Die Töne dazwischen sind leise.
Zu den Schwarzsehern zählt der israelische Historiker und Philosoph Yuval Noah Harari, der Autor von „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ oder „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“. In einem Beitrag für den „Economist“ fragt er, vorsichtshalber im Konjunktiv: „Was würde geschehen, wenn eine nicht-menschliche Intelligenz besser als der Durchschnittsmensch darin wäre, Geschichten zu erzählen, Melodien zu komponieren, Bilder zu malen und Gesetze und Schriftstücke zu verfassen?“
Die Frage beunruhigt. Dankt der Mensch als Krone der Schöpfung ab?
Nach der Hyperventilation ebbt die Aufregung meist ab
Vielleicht ist der Hype übertrieben. Ist es denn nicht immer so? Am Anfang steht das Neue – Dampfmaschine, Dynamit, Fließband, Auto, Internet –, und nach einer Welle der Hyperventilation ebbt die Aufregung ab. Der Mensch arrangiert sich. Warum sollte das mit Künstlicher Intelligenz im Journalismus, in der Kunst, der Schriftstellerei, der Musik anders sein?
Ja, warum? Noch einmal Harari: „Frühere Werkzeuge wie der Buchdruck und das Radio halfen, die kulturellen Ideen der Menschen zu verbreiten, aber sie schufen nie selbst neue kulturelle Ideen. KI ist grundlegend anders. KI kann völlig neue Ideen schaffen, eine völlig neue Kultur.“
Ich war einst Pappen-Assi. Das war Mitte der 1980er Jahre in der „Tagesschau“-Redaktion in Hamburg. Ein Studentenjob.
Pappen-Assis saßen während der Sendung im Studio vor einer Kamera. Im richtigen Moment und in der richtigen Reihenfolge mussten sie hellblaue Pappen ziehen, auf denen die jeweilige Meldung mit einem Bild und einer Zeile illustriert worden war. Die Illustration wurde dann hinter dem Sprecher der Nachricht eingeblendet. Der Job war gut bezahlt.
Technikverständnis wurde wichtiger als Handwerk
Für die Illustration war ein Team von Grafikern verantwortlich. Das passende Bild musste in einem großen, dunklen Archiv gefunden und aufgeklebt werden. Die Buchstaben für die Zeile wurden durchgerieben. Das erforderte Erfahrung, Geduld und Geschick.
Bis eines Tages die Paintbox eingeführt wurde. In ihr waren alle Bilder des Archivs digital gespeichert. Die Zeilen ließen sich bequem auf einer Tastatur tippen. Die Grafiker wurden umgeschult. Technikverständnis war plötzlich wichtiger als Handwerksarbeit. Pappen-Assis wurden nicht mehr gebraucht. Ich wurde Korrekturleser bei der „Zeit“.
Das ganze Leben heißt Veränderung. Man steigt niemals ein zweites Mal in denselben Fluss. Könnte sich in diese Arrangementerfahrung mit dem Neuen nicht auch die Künstliche Intelligenz einreihen?
Malte Lehming
Bei meiner zweiten beruflichen Veränderungswahrnehmung war ich bereits Journalist und durfte zu einem Termin ein Handy ausleihen. Es war, glaube ich, von Motorola, sehr schwer und mit einer langen Antenne. Ich schrieb im Juli 1993 über Bundeskanzler Helmut Kohl, wie er zum ersten Mal die Truppe im Osten Deutschlands besuchte. Bundeswehr und Nationale Volksarmee hatten fusioniert.
Mein Artikel wanderte über ein piepsendes System namens „combox“ nach Berlin
Höhepunkt war eine Gefechtsvorführung des Schwimmbrückenbataillons 803 auf einem Wasserübungsplatz nördlich von Rathenow. Irgendwo im Nirgendwo. Doch mit meinem Handy konnte ich den Text direkt an die „Tagesspiegel“-Zentrale in Berlin durchtelefonieren. Fantastisch.
Zum dritten Mal hatte ich dieses Gefühl nur wenig später, im November 1995. Ich war nach Israel gefahren, um über die Stimmung im Land nach der Ermordung von Jitzchak Rabin zu berichten. Von einem Kibbuz am See Genezareth aus wanderte mein Artikel direkt nach Berlin über ein piepsendes System namens „combox“. Kein Durchtelefonieren mehr, die Schreibkräfte in der Zentrale wurden nach und nach versetzt.
Alle Veränderungen, die ich bislang kennengelernt hatte – von der Paintbox bis zu Google –, ließen sich in ihren Konsequenzen einordnen in den Lauf der Dinge. KI ist anders. KI wirkt revolutionär.
Malte Lehming
So könnte die Aufzählung weitergehen. Über Online, Social Media, Google, Verplussung. Journalismus heißt Veränderung. Das ganze Leben heißt Veränderung. Man steigt niemals ein zweites Mal in denselben Fluss. Könnte sich in diese Arrangementerfahrung mit dem Neuen nicht auch die Künstliche Intelligenz einreihen?
Was verstehen wir künftig unter Authentizität oder Originalität?
Der Tagesspiegel hat jetzt zwei KI-Wochen veranstaltet, eine Art Schnupperkurs für Einsteiger und Interessierte. Man konnte lernen, üben, ausprobieren, fasziniert sein. Wie funktioniert ChatGPT? Wie lässt es sich einsetzen? Was ist „Prompting“? Antwort: die Kunst des genauen Befragens. Was kann das System? Antwort: Dem Programm stehen Texte aus Büchern, Websites und Dokumenten aus dem Internet zur Verfügung, die rund eine Billion Wörter umfassen.
Mein persönliches Resümee, das freilich eher gefühls- als wissensbasiert ist: Nicht nur der Journalismus wird sich durch KI radikal verändern, sondern auch Kunst, Musik, Schriftstellerei. Die kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft müssen neu definiert werden. Was verstehen wir künftig unter Authentizität, Individualität, Kreativität, Originalität? Keiner dieser Begriffe versteht sich noch von selbst.
Von Ludwig Wittgenstein stammt der Satz: „Ein philosophisches Problem hat die Form: Ich kenne mich nicht mehr aus.“ Das trifft es. Ich kann Dutzende Fragen formulieren – und irre durch einen dichten Antwortnebel zu den nächsten Fragen. Das ist das Neue an diesem Neuen. Es sprengt Gewissheiten. Alle Veränderungen, die ich bislang kennengelernt hatte – von der Paintbox bis zu Google –, ließen sich in ihren Konsequenzen einordnen in den Lauf der Dinge. KI ist anders. KI wirkt revolutionär.
ChatGPT fasziniert und macht Angst
ChatGPT ist wie ein riesiger Wort- und Text-Staubsauger, der sein Material nicht nach Grammatik ordnet, sondern danach, in welchen Zusammenhängen Worte benutzt werden. Das Programm analysiert die Verwendungsweise von Schrift und Sinneinheiten. Diese Verwendungsweise kann es in fast jeder erwünschten Form nachahmen. Je größer das Datenmaterial, desto genauer das Ergebnis.
Die Reaktionen darauf sind vielfältig. Sie reichen von Faszination bis Angst. Ich kann dem Programm sagen, dass es einen Text schreiben soll im Umfang von 3000 Anschlägen im Stil von Malte Lehming vom Tagesspiegel über das Thema Religionsfreiheit. Das Resultat dauert etwa 20 Sekunden, ist fast auf die Zeile genau lang, allerdings etwas allgemein gehalten. Interessanter wird es, wenn die Eingabe präziser ist, etwa zum Thema „Religionsfreiheit in den USA“.
Wer bin ich als Autor, Komponist, Schriftsteller oder Maler, wenn meine Werke auch eine Maschine machen kann? Wenn diese Maschine alle meine Texte kennt, weiß sie mehr über mich als ich selbst, der sich nur an einen Bruchteil erinnert.
Malte Lehming
ChatGPT kann Artikel kürzen, zusammenfassen, es kann sie in Gedichtform, im Stil der „Bild“-Zeitung oder von Friedrich Nietzsche schreiben. Andere KI-Programme können aus ihrem Musikarchiv Werke neu komponieren, etwa die Zehnte Sinfonie von Beethoven. Perfekt ist das Ergebnis oft nicht. Noch nicht. Bis zur Perfektion ist es nur eine Frage der Zeit.
Wer bin ich als Autor, Komponist, Schriftsteller oder Maler, wenn meine Werke auch eine Maschine machen kann? Wenn diese Maschine alle meine Texte kennt, weiß sie mehr über mich als ich selbst, der sich nur an einen Bruchteil erinnert. Was wird aus Triebfedern der kulturellen Produktion wie Eitelkeit, Geltungsdrang, Veränderungswille, wenn das vergleichbare Resultat auch eine Maschine erzielen kann?
In seiner 2015 erschienenen Autobiografie „Words Without Music: A Memoir“ zeichnet der amerikanische Musiker und Komponist Philip Glass die prägenden Stationen seines Lebens nach. An einer Stelle heißt es: „Es gibt einen Punkt in der Entwicklung eines Schriftstellers oder Komponisten, an dem er beginnt, genau der Dinge überdrüssig zu werden, die ihm seinen anfänglichen Erfolg beschert haben. Es kann an Herausforderung oder Anregung mangeln. Wenn die Tricks des Handwerks zu Klischees oder leeren Gesten werden, kann der Künstler das Gefühl bekommen, dass er oder sie nicht mehr in der Lage ist, etwas Neues oder Wahres zu sagen.“
Was haben Künstler im KI-Zeitalter zu sagen? Welcher Impuls treibt sie an?
Kultur bedeutet Kommunikation. Bisher war das Konzept der Kommunikation an Menschen gebunden, an real existierende Individuen. Nun dringen immer mehr irreale Wesen in den gemeinsamen Kommunikationsraum. Wann entsteht der erste KI-Roman? Vielleicht gibt es ihn schon. Wann die erste Nachrichten-Website, die ausschließlich KI-generierte Informationen enthält? Auch wenn die Besänftiger betonen, wie wichtig das Fact-Checking bleibt und wird: Selbst dafür wird es wohl bald Programme geben.
Schon jetzt wird KI im Journalismus eingesetzt. Da ist das britische Unternehmen „Radar AI“, gegründet 2018, das Lokalzeitungen mit Datengeschichten beliefert wie: „Diese Karte zeigt Ihnen alle öffentlichen Toiletten im Süden von Essex.“ Die fünf fest angestellten Journalisten haben bereits mehr als 400.000 Geschichten dieser Art produziert.
Was wird aus Schulen und Universitäten? Wer raffiniert genug ist beim „Prompting“, verhindert, dass in der Haus-, Magister oder Doktorarbeit der Einsatz von KI nachgewiesen werden kann. Und was bedeutet der Begriff „Plagiat“, wenn ein Programm lediglich online verfügbares Originalmaterial neu zusammensetzt?
Auf all das gibt es noch keine Antworten, aber es wird sie geben müssen. Wir stehen ganz am Anfang einer Revolution.