Zauberwürfel unter Kronleuchtern

Meine Berlinale-Bilanz ist eindeutig negativ: Ich hab immer noch kein Corona.

Das mit der Hygiene hatte durchaus Vorteile. Der Nebensitz im Kino blieb stets frei für meine Tasche. Vor mir saß auch keiner, der zwei Drittel eines Films vergeblich versucht, seinen Hustenanfall einzudämmen. Niemand hielt nach den Filmen endlose Monologe, die er als Frage an die Regisseurin deklarierte. Ach ja, zu trinken gab’s dieses Jahr auch nichts. Nüchtern betrachtet hat die Berlinale überlebt – und selbst als Maskenball viele Menschen belebt.

Ein leichtes Leuchten als heller Schein. Das eigene Sein gegen das Nicht-Sein. Die Filme der Pandemie machen Mut, sind aber selten leicht. Der Mensch will weiterleben. Trotz seiner leichten Verletzlichkeit.

Alles begann mit einem Roadmovie aus Island

Dies hier ist meine aller-aller-aller-allerletzte Berlinale-Kolumne. Irgendwann müssen meine eckigen Augen zurück ins Runde.

[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint auch über das Neueste von der Berlinale. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]

Für mich begann alles mit der Berlinale vor fast 30 Jahren. Ein Roadmovie in den apart zersplitterten Landschaften von Island fesselte mich für immer ans Kinofenster zur Welt. Als es nicht mehr weiterging, tauchte eine Fee auf und rettete alle. Gefeiert wurde das mit dem „Schwarzen Tod“. So heißt der selbstgebrannte Schnaps auf Island. Er vulkanisiert jeden Hals. Da kratzt selbst Omikron ab.

Auch diesmal beschloss ich mein Festival mit einem isländischen Film. Es ging um eine Jugendgang, neben dem Schnaps wurden auch andere Tode gestorben. Als es nicht mehr weiterging, kam eine Fee. Aus dem Nichts sollte wieder alles gut sein. So wie gerade bei der Corona-Politik.

“Steglitz stand Kopf”

Für die Berlinale begann alles vor 71 Jahren im Titania-Palast. Fast alle anderen Kinos waren damals ausgebombt. Der „Telegraf“ berichtete begeistert aus dem Südwesten der Stadt: „Steglitz stand Kopf. D. h. eigentlich stand es Schlange. Es stand Mauer. Die Polizei riegelte ganze Straßenzüge ab, als lägen hochentzündliche Minen in der Gegend.“ Seitdem hat Berlin gern viereckige Augen.

[Kiezkultur und mehr in den bezirklichen Newslettern vom Tagesspiegel, ganz unkompliziert und kostenlos bestellen unter leute.tagesspiegel.de]

Dieses Jahr kehrte das Festival zurück in den Titania-Palast. Im Saal hier hängen zwei Kronleuchter, vorm Film am extra angeleuchteten Vorhang läuft klassische Musik. Straßensperren gibt es nicht mehr – wenn man von überall parkenden Autos absieht.

Die bisherigen Berlinale-Kolumnen von Robert Ide:

Meine schönste Szene der Berlinale sah ich vor einem Film. Eine junge Frau setzte sich neben mich ins Kinofoyer. Sie holte einen Zauberwürfel aus ihrem Rucksack, drehte verträumt die vermischten Farbenseiten hin und her, ihre Finger griffen vor und zurück, sekundenschnell wandelte sich der Würfel, Flächen wurden einheitlich, fast jedenfalls, wieder weggedreht, hier noch rum, da, zurück.

Eine Minute höchstens ist rum, die junge Frau sieht schon gar nicht mehr hin, der Würfel kreist um ihre Finger, hin, her, rüber, Drehung, fertig. „Cool“, sage ich, sie freut sich darüber. „Ich hab mir das im Lockdown beigebracht, ganz allein mit Youtube-Tutorials.“ Sie steckt den Würfel wieder ein. „Schön, dass ich es mal jemandem zeigen konnte.“ Dann steht sie auf und geht in den Saal. Warum gehen Menschen ins Kino? Wegen der Menschen.

Dies war meine aller-aller-aller-allerletzte Berlinale-Kolumne. Für dieses Jahr.