Deutsch-deutscher Dolmetscher
Ein kleines Schild, 17,5 Zentimeter breit, 12 Zentimeter hoch. Dieser Buchstabe D, schwarz auf weiß, im schwarz umrandeten Oval, blieb wohl nach 1949, also auch nach Gründung beider deutscher Teilstaaten, einziges Zeichen für die Einheit der Nation. Denn bis 1973 demonstrierten etwa 16 Millionen Bundesdeutsche und 1,7 Millionen DDR-Bürger mit diesem Minitransparent an ihren Autos für Deutschland – als Ganzes. Und dieses gemeinsame D war Titel und Programm unseres deutsch-deutschen Magazins.
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Doch die SED machte mit dem bisschen Gemeinsamkeit am 1. Januar 1974 Schluss. Die deutschen Kommunisten bestanden wegen der ersehnten internationalen Anerkennung auf ihren drei Buchstaben. Fortan mussten die Trabifahrer an ihre kleine Kunststoff-Karosse ein größeres Oval montieren: der „Zonen-Mini“ mit dem Maxi-DDR-Schild.
Das Fernsehen galt in seiner Blütezeit, also vor der Streaming-Ära, als das Lagerfeuer, vor dem sich die Zuschauerfamilien versammelten. Und „Kennzeichen D“ im ZDF war damals so etwas wie ein gesamtdeutscher Stammtisch, an dem Doppeldeutschland hockte, gemeinsame Sorgen besprach, vom Nachbarn lernte oder auch über den Alltag in West und Ost stritt. „Kennzeichen D“ versuchte, den Bundesbürger die zugemauerte DDR ein wenig zu öffnen, beleuchtete kritisch, was die SED unter „Fortschritt“ verstand und zeigte den Ostdeutschen, dass beim westlichen Gold auch nicht alles glänzt.
Beschreibung der Teilungsnöte
Das Magazin war sicher nicht Prophet der Einheit, aber bei der Beschreibung der deutschen Teilungsnöte war es stets besonders engagiert. Die getrennten Deutschen begannen einander in die Fenster zu schauen, obwohl die Gardine beim DDR-Nachbarn meist zugezogen war. Erst spät begannen Politiker in Ost und West zu begreifen, welche immense Wirkung kritische Berichte aus der westlichen Welt neben realistischen Reportagen über den Osten in einer Sendung von jeweils 45 Minuten hatten.
„Kennzeichen D“, gestartet am 9. September 1971, zeigte den nicht propagandistisch geschönten DDR-Alltag. Wie später auch in der ARD-Sendung „Kontraste“ kam die zum Schweigen verurteilte DDR-Gegenöffentlichkeit zu Wort: Umwelt- und Friedensgruppen unter dem Dach der evangelischen Kirche, Bürgerrechtler, kritische Schriftsteller und sogar die Parias des Regimes, Menschen, die rechtlos geworden waren, weil sie einen Ausreiseantrag gestellt hatten.
Berlin als Standort
Unser Standort war das geteilte Berlin. Die Mauerstadt erlebten wir unmittelbar als zutiefst gezeichnet von den Verbrechen der roten aber auch der braunen Diktatur. Hetzer wären wir, schimpfte die Propaganda der SED, weil wir nicht nur hässliche Symptome, sondern das ganze System des „real existierenden Sozialismus“ negativ benoteten. Unverantwortlich kritisch wären wir gegenüber dem Westen, tadelte die Unionsmehrheit im ZDF-Fernsehrat, die überhaupt die Ansicht vertrat, man dürfe rote Äpfel Ost nicht mit goldenen Birnen West in eine Sendung packen. Im westlich verankerten Mainz war nicht immer Verständnis zu spüren für unsere an der Teilung geschulte Dialektik.
Aus Mainz kam regelmäßig und zu bevorzugter Sendezeit das „ZDF-Magazin“, das sich schon dem Namen nach als politisches Aushängeschild des Senders verstand. In den Jahren der sozialliberalen Koalition wurde die Sendung unter der Leitung von Gerhard Löwenthal zu einem Periodikum scharfer Opposition gegen Bundeskanzler Brandts Entspannungs- und Gewaltverzichtspolitik und die daraus folgenden „Ost-Verträge“. Im Proporzdenken von Medienfunktionären sollte „Kennzeichen D“ gegenüber Löwenthals Kampfmagazin Ausgewogenheit bedeuten.
Beargwöhnt im eigenen Haus
„Keine Magazin-Redaktion hat es so schwer gehabt wie die Berliner ,D’-Mannschaft, beargwöhnt im eigenen ZDF- Hause, angefeindet draußen, ausgesetzt dem Proporzgerangel der Parteien, benachteiligt durch ungünstige Sendezeiten, verpflichtet einem gesamtdeutschen Anspruch“, urteilte Karl-Heinz Janßen in der „Zeit“.
Die SED hat das D im Titel als Beleg für militaristisches Streben der „Bonner Ultras“ nach „Großdeutschland“ geschmäht. Das hat jedoch eine kaum übersehbar große Anzahl von DDR-Bürgern nicht davon abgehalten, das Programm mit dem D einzuschalten. Selbst Erich Honecker sagte 1986 West-Korrespondenten lachend: „,Kennzeichen D’ ist Pflichtlektüre für jeden DDR-Bürger!“ und ergänzte: „Natürlich nur, weil jeder DDR-Bürger wissen muss, was der Klassenfeind denkt und plant.“ Das war aus dem Mund des Saarländers jedenfalls freundlicher als die SED-Propaganda, die das deutsch-deutsche Magazin als „Aggressor auf Filzlatschen“ bezeichnete.
D wie Dialog
Das D im „Kennzeichen D“ habe ich als D wie Dialog verstanden, anders gesagt: Der Programmauftrag hieß für mich D wie Dolmetscher, also Vermittler zwischen zwei „Landessprachen“ in einer Muttersprache. Die Jahrzehnte der Teilung hatten bereits zu erheblicher Sprachlosigkeit geführt. Es war die Zeit, da die DDR das Unaussprechliche in der Bonner Politik war, da es – auch im ZDF – politisch als nicht korrekt galt, DDR oder gar Deutsche Demokratische Republik zu sagen, DDR zu schreiben allenfalls in Gänsefüßchen, womit betont werden sollte, dass diese Republik nur ein sogenannter Staat war. Die meisten Westdeutschen, auch die Politiker sprachen von der „Sowjetzone“, kurz von der „Zone“, oder abgekürzt von der „SBZ“ für Sowjetische Besatzungszone.
Ja, es gab auch Fehleinschätzungen über das Deutsche aus Ost und West und journalistischen Irrtum. Wir diskutierten in der Redaktion unser DDR-Bild. Dass dieses sozialistisch-kommunistische Experiment, bewacht von sowjetischen Panzern nie eine Alternative zur Bonner Republik mit ihrem Grundgesetz sein könnte, war unbestritten. Aber es gab auch den falschen Kommentar, nach der Ulbricht-Ära in Honeckers „Sozialpolitik“ gäbe es leise Hoffnung. Wir suchten nach kleinen Fortschritten im geteilten Deutschland mit der Formel „Wandel durch Annäherung“, mussten aber immer öfter Rückschritt oder Wandel durch Abgrenzung verzeichnen.
Ausgefuchster Diplomat
Kurz nach der Wende bilanzierte die Wochenzeitung „Die Zeit“ die Arbeit von „Kennzeichen D“ in Zeiten der deutschen Teilung unter dem Titel „Ausgefuchster Diplomat“. Diplomaten waren aber vor allem unsere Zuschauer in der DDR, die trotz des offiziellen Interviewverbots mit uns sprachen. Brachte das DDR-Fernsehen in Interviews systemkonforme oder sogar parteilich mobilisierende Antworten, so sprachen DDR-Bürger vor unserer Kamera zuweilen ungewohnten Klartext, selbst wenn „zwischen den Zeilen“ formuliert wurde.
Auch nach der Wiedervereinigung blieb das Magazin „verbannt auf einen späten Sendeplatz“, wie die „FAZ“ kritisch anmerkte. Die Zeitung nannte „Kennzeichen D“ ein „Kleinod unter den Magazinen“ und attestierte der Sendung ein „Niveau, mit dem ,Kennzeichen D’ die Tugenden gewissenhaften Fernsehjournalismus über den Tag hinaus rettet.“
Goldene Kamera
Nach mehreren Auszeichnungen erhielt das Magazin 1999 die „Goldene Kamera für Glaubwürdigkeit im Fernsehen“. Der TV-Dolmetscher zwischen West und Ost wurde jedoch nach Überzeugung der Mainzer Programm-Verantwortlichen im neuen Jahrhundert, zehn Jahre nach Vollzug der deutschen Einheit, nicht mehr gebraucht.
„Kennzeichen D“ wurde gegen zahlreiche Proteste, vor allem aus dem Osten, am 14. März 2001 zum letzten Mal ausgestrahlt. Nichts gegen die wichtige Arbeit des Nachfolgemagazins „Frontal 21“. Doch heute ist noch immer Dialog und Dolmetschen im vereinten Land vonnöten. Die Position des „ausgefuchsten Diplomaten“ blieb vakant.
Der Autor war mehrere Jahre Leiter und Moderator von „Kennzeichen D“.