Kunst ohne Druck: Die ehemalige Gaswerksiedlung in Rummelsburg wird bunt

Einst lebten hier Arbeiter der Lichtenberger Gaskokerei. Sieben Altmieter sind noch übrig, hinter den hanseatisch anmutenden Backsteinfassaden dieser 17 aneinandergereihten Wohnhäuser. Ihre Nachbarn sind neu und kreativ.

Eine Oase für Kunstschaffende hat der studierte Kunsthistoriker Stephan Kunze mit einigen Mitstreitern in der 1925 von den Architekten Ernst Engelmann und Emil Fangmeyer erbauten Gaswerksiedlung geschaffen: Wenig bekannte Künstler:innen oder solche, die am Anfang ihrer Karriere stehen, finden in den ehemaligen Wohnungen Studios zu bezahlbaren Preisen. „Kreativität ohne kommerziellen Druck“, will Kunze ermöglichen. Klingt wie eine gelebte Utopie.

Nur das Nötigste renoviert

Die Siedlung liegt an der Köpenicker Chaussee in einem industriell geprägten Gebiet in Rummelsburg, das Kraftwerk Klingenberg gleich nebenan. Im ersten Gebäude der Siedlung, das früher dem leitenden Angestellten vorbehalten war, hat sich das Café Muschkebart zum Treff für Künstler:innen und Anwohner etabliert. Es ist sonst nicht viel los hier.

Mehrere Monate ließ Kunze die Siedlung instandsetzen, mit Strom und Wasserzugängen, teils neuen Fußböden und Sanitäranlagen ausstatten. Ende 2017 zogen die ersten Künstler:innen ein. Inzwischen ist alles belegt. Warmes Wasser gibt es immer noch nicht. Wohnnutzung ist auch gar nicht zugelassen.

Alles perfekt zu renovieren, ist für Kunze ohnehin keine Option. Im Treppenhaus blättert die Farbe ab. „Es steht alles unter Denkmalschutz. Da müsste ich im historischen Farbton renovieren. Das kostet ein Vermögen und dann würde die Miete für die Studios steigen.“ Genaue Quadratmeterpreise nennt er nicht. Die Miete sei niedrig, aber nur in Relation zu anderen Studios, sagt er. Die Mieten variierten je nach Ausbauzustand der Einheiten und reichten aus, damit sich die Gaswerksiedlung durch sie refinanziere.

Pachtvertrag läuft vorerst bis 2031

Die Siedlung gehört Vattenfall, die sie von der Gasag übernommen hat. Den ersten Pachtvertrag mit Vattenfall schloss Kunze 2017. Der Vertrag wurde inzwischen verlängert und läuft bis 2031. „Damit ist die Zukunft der Gaswerksiedlung als Künstler- und Musikhaus langfristig gesichert. Auch darüber hinaus bin ich optimistisch, da Vattenfall uns als Mieter mag und konstruktiv unterstützt.“

Häufig hostet die Siedlung Events und Partys, bei denen eigene oder eingeladene Künstler:innen spielen und das Café sich in einen Club verwandelt.
Häufig hostet die Siedlung Events und Partys, bei denen eigene oder eingeladene Künstler:innen spielen und das Café sich in einen Club verwandelt.
© Peer Kugler

Insgesamt zählt die Siedlung 105 Einheiten, die jeweils vier bis fünf Kunstschaffende gemeinsam nutzen, Bands, Musiker, bildende Künstler:innen, Architekten. Die Studios sind in die ehemaligen Wohnstuben integriert.

Im Haus mit der Nummer 31 hat der französische Musikproduzent und DJ Stephane Lefrancois Schlagzeug und Mischpult in einem knapp zehn Quadratmeter großem Raum aufgebaut. Im Vorraum steht eine kleine Küchenzeile. Ein Überbleibsel der ehemaligen Arbeiterwohnungen, die sich diesen kleinen Küchenbereich häufig geteilt haben. Lefrancois ist schon seit Beginn in der Gaswerksiedlung. Er verbringe einen Großteil seiner Zeit damit, andere, jüngere Künstler:innen zu unterstützen – sei es beim Optimieren von Sounds mithilfe von „Modular Synthesis“ oder beim Schlagzeugspielen, erzählt er.

Studio von Stephane Lefrancois in der Gaswerksiedlung
Studio von Stephane Lefrancois in der Gaswerksiedlung
© Anna Bresoli

Auch bekanntere Bands wie Von Wegen Lisbeth und Giant Rooks proben in der Gaswerksiedlung. Bei der großen Wochenend-Veranstaltung „Gaswerk Art Days“ Ende Juli wurde allerdings bewusst darauf verzichtet, mit bekannten Headlinern zu werben. Es gehe um Kreativität, egal ob die Künstler:innen bekannt oder unbekannt seien, sagt Kunze. Es sei auch Platz für unkonventioneller Ausrichtungen, was in der Gaswerksiedlung entstehe, sei experimentell, international und divers.

Kunze sieht etwa von Afrika inspirierte Rhythmen und Beats, zum Beispiel aus Mali oder Ghana, als richtungsweisend für neue Musikproduktionen an. „Leider fehlt in Berlin eine starke, unterliegende schwarze Kultur, wie man sie beispielsweise in London oder Paris findet.“ Um dies zu ändern, lädt die Gemeinschaft permanent neue Leute ein, an Projekten in der Siedlung mitzuarbeiten.

Der Garten und Bühnenbereich der Siedlung von oben.
Der Garten und Bühnenbereich der Siedlung von oben.
© Anna Bresoli

Ein weiteres Highlight: der Garten. Durch die Häuser von der Straße abgeschirmt, findet man dort Idylle gepaart mit dem typischen Chaos, das entsteht, wenn sich viele Leute um einen Garten kümmern. Einige haben Hochbeete angelegt, andere pflanzen Schmuckblumen für ihre Videokunst. Es gibt Bienenstöcke und die alten Fernwärmeröhren des Gaswerks werden etwa in experimentelle Tanzperformances eingebunden.

Sozial und gemeinschaftlich wie bei Beuys

Kunze, der Kunstgeschichte studiert hat, erzählt, er sei geprägt von Jospeh Beuys’ 7000- Eichen-Projekt bei der Documenta 1982. Er war damals live dabei. Auch die Gaswerksiedlung versteht er als soziale Plastik: Gemeinschaft, Partizipation und Teilhabe sind wichtige Werte. Man spürt es auch beim Besuch: Menschen grüßen sich freundlich, Konzertpläne werden abgesprochen, unterschiedliche Kunstsparten von Blumenkunst bis Performance sind dabei. In allen Ecken wird gewerkelt.

Die sieben ehemaligen Arbeiter mit Langzeit-Mietverträgen seien gut integriert, findet Kunze. Mal würden sie bei Konzerten zuhören oder jemand begleite sie zu einem Arzttermin. Aus Rücksicht auf die verbleibenden Bewohner und auf die bildenden Künstler:innen ist die Siedlung in leise, halblaute und laute Häuser unterteilt. Nur in den lauten Häusern werden Bands untergebracht, die dann dort proben können, ohne zu stören.